Wie bei feinen Leuten

Der klassische Afternoon Tea wird auch in Berlin immer beliebter. Bei dem traditionsreichen Ritual kann man stilvoll entspannen.

Wenn die Etagere kommt, ist das Ende nah. Das Ende des lauten, enervierenden, manchmal überfordernden Alltags in der Großstadt. Denn jetzt ist Pause – und Teezeit. In Großbritannien gehört der Afternoon Tea seit jeher zu den Alltagsgewohnheiten. Jetzt wird dieses traditionsreiche Ritual auch in Berlin immer beliebter. Der Afternoon Tea ist eine Teezeremonie, die meist zwischen drei und fünf Uhr nachmittags in der Lobby eines eleganten Hotels begangen wird, in Gesellschaft von Stammgästen, internationalen Besuchern und immer öfter neugierigen Stadtbewohnern. Trotz seines Namens ist der klassische Afternoon Tea eine vollständige Mahlzeit. Sie hat drei Gänge, die auf einer dreistöckigen Etagere zusammen serviert und nach einer vorgegebenen Abfolge gegessen werden – von unten nach oben. Auf keinen Fall kommt ein echter Nachmittagstee ohne Gurkensandwiches aus. Was sich zunächst etwas exzentrisch anhört, hat einen kulinarischen Sinn. Der zurückhaltende, aber erfrischende Geschmack von hauchdünnen Gurkenschnipseln, die zwischen gebutterten Toastscheiben serviert werden, passt ideal zur ersten, belebend starken Tasse Tee. Meist werden dazu noch Varianten mit Eiersalat, Rauchlachs oder sogar Schinken gereicht. Ganz britisch wird dabei die vornehme Blässe bevorzugt – das rindenlose Weißbrot bleibt immer ungetoastet. Nach diesem herzhaften Gang ist der erste Nachmittagshunger gestillt. Der Tee beginnt, die Lebensfreude zu beschleunigen. Jetzt sind die Hauptdarsteller des klassischen Afternoon Teas an der Reihe: die Scones. Das sind kinderfaustgroße, leicht süße Gebäcke aus kompaktem Backpulverteig. Man bricht sie in Stücke und bestreicht sie mit Erdbeermarmelade und „Clotted Cream“. Dabei handelt es sich um eine besonders reichhaltige Sahne aus roher Kuhmilch, die einen charakteristischen Eigengeschmack hat. Originalgetreu wird sie nur in einigen Grafschaften von England hergestellt und von dort in die Welt verschickt. Wem Clotted Cream zu fettig ist, der kann sie einfach weglassen. Der Afternoon Tea gibt sich vielleicht fein und vornehm. In Wirklichkeit ist er aber eine Zeit der Freiheit und Entspannung. Oft gehört ein Glas Champagner dazu.

Eingeführt wurde der Brauch des Nachmittagstees Mitte des 19. Jahrhunderts in England. Er gab adligen Damen eine Möglichkeit, die Zeit der Langeweile und des knurrenden Magens zwischen Frühstück und Supper mit Konversation und kleinen Speisen zu überbrücken. Das Bürgertum übernahm den Brauch und exportierte ihn in die feinen Hotels der ganzen Welt. Der Afternoon Tea gehört im traditionsbewussten Großbritannien übrigens bis heute zur Gattung der „Low Teas“ – der „niedrigen“ Tees. Und zwar, weil er traditionell auf Sofas oder in Sesseln eingenommen und auf passend niedrigen Tischen serviert wird. Dabei muss nicht immer das volle Programm aufgefahren werden. Eine leichtere Alternative ist der „Cream Tea“, wie er in vielen britischen „Tea Rooms“ und Hotels bis heute auch für Normalsterbliche zu den selbstverständlichen Genüssen des Alltags gehört: ein paar Tassen Schwarztee mit Milch, dazu Scones mit Clotted Cream und Erdbeerkonfitüre. Im Gegensatz dazu steht der „High Tea“, wie er zuweilen in noblen Hotels auf dem Programm steht. Doch „high“ hat hier nichts mit der Höhe der Nasenspitze zu tun. Sondern ebenfalls mit dem Tisch. Ein „High Tea“ ist in England nichts anderes als ein frühes Abendbrot mit Tee und leichten Speisen, das an einem richtigen, „hohen“ Esstisch eingenommen wird. 

Der Tee selbst wird beim Nachmittagstee sehr unterschiedlich gehandhabt. Man kann hochwertige Tees in losen Blättern aufgegossen bekommen – oder schnöde Teebeutel. Briten selbst stören sich an diesen selten. In Berlin aber ist Tee heute eine komplizierte Sache. Immerhin trinken die Deutschen durchschnittlich 150 Liter Kaffee pro Jahr, aber nur 26 Liter Tee. Darum wird hier seit einigen Jahren leidenschaftliche Aufklärung betrieben. In der marmorprunkenden „Tea Loun-
ge“ des Ritz-Carlton am Potsdamer Platz etwa bekommt jeder Gast zu Beginn des Afternoon Teas von der Teemeisterin die „Schnüffelbox“ vorgehalten. Das ist ein verschließbarer Holzkasten, in dem 16 Sorten losen Tees beschnuppert und ausgewählt werden können. Im „Hotel de Rome“ bemüht sich die Teekarte mit präziser Prosa darum, den Gästen die Unterschiede zwischen Darjeeling mit „zart-nussiger“ Geschmacksnote und Assam mit „malzigem Aroma“ deutlich zu machen. Im Kempinski Hotel Bristol am Ku’damm lenkt man das Augenmerk eher auf die Atmosphäre der charmanten Gobelin-Halle – und beschränkt sich beim Getränk auf Teebeutel der gehobenen Durchschnittsklasse.

Ein Afternoon Tea lebt nicht nur von den Speisen und dem Tee. Er lebt von der Atmosphäre. Vom Spiel des Pianisten, das zumindest an den Wochenenden fast immer dazugehört, von den weißen Servietten, mit denen man die Knie schützt, von der Behaglichkeit, die aufkommt, wenn man sich noch eine Tasse Tee eingießt und überlegt, welches Teilchen man als nächstes von der Etagere pickt. Nach den nahrhaften Scones bleibt die oberste Platte dabei manchmal fast unangerührt. Sie ist die Bühne des Hauspatissiers und enthält Pralinen, Petit Fours und Meringues oder Macarons.

Für manche gehört auch der abgespreizte kleine Finger dazu. Bevor 1710 die Meißner Porzellanmanufaktur die Tasse mit Henkel erfand, wurde Tee nach asiatischer Tradition in kleinen Porzellanbechern ohne Griff serviert. Man hielt sie am oberen Rand zwischen Daumen und Mittelfinger und musste höllisch aufpassen, dass man die heiße Flüssigkeit nicht verschüttete. Der abgespreizte kleine Finger half, das Gefäß zu balancieren. Auch wenn diese Haltung heute laut Knigge aus der Mode ist, besteht für manche Besucher ein Teil des Spaßes darin, sich zum Afternoon Tea besonders schön herauszuputzen und dabei ein wenig „Feine Leute“ zu spielen. Doch egal, ob gepflegt oder lässig, gespreizt oder nicht, der klassische Afternoon Tea ist keine komplizierte Prüfung von Tischsitten. Sondern genau das Gegenteil. Das Koffein rauscht durch die Adern. Der Pianist spielt „Sentimental Journey“. Die Etagere leert sich langsam und die Polstersessel werden immer tiefer. Man sitzt in Berlin und könnte doch überall auf der Welt sein. Der Alltag wartet für ein paar Stunden in einem anderen, weit entfernten Universum. Das ist es, was der Afternoon Tea kann. Und warum man ihn unbedingt hin und wieder genießen sollte.   

Susann Sitzler

 

Information
Den klassischen Afternoon Tea gibt es in Berlin täglich etwa in den Hotels Adlon, Kempinski Hotel Bristol, Regent, Ritz-Carlton sowie im Kaffeehaus Grosz am Kurfürstendamm. Freitags bis sonntags im Hotel de Rome, sonntags im Schlosshotel Grunewald und auf Anfrage im Waldorf Astoria. Das Palace Hotel am Breitscheidplatz bietet jeden Sonntag eine Kombination aus Afternoon Tea und Tanztee.

 

 

61 - Winter 2015