Der Letzte seiner Art

Wie eine Stoffbahn, die mit einem Windstoß aus einer Kommode flattert, so füllen Klaus Schumanns Geschichten einen Raum. Nicht nur leichte Seide ist darunter – auch schweres Gewebe.  „Jetzt kommen Sie doch erstmal rein in meinen kleinen Keller“, sagt er zur Begrüßung. Das ist natürlich übertrieben. Tatsächlich befindet sich das Atelier des Berliner Couturiers beinahe versteckt hinter einer holzvertäfelten Tür im Erdgeschoss eines gepflegten Wilmersdorfer Altbaus. Aber klein ist es hier nicht – sondern deliziös. Von der Scheuerleiste bis zur Decke ist die Raumfolge mit einer Efeutapete bezogen, was ihr die Atmosphäre eines entlegenen Gärtchens gibt. „Das war gar nicht so einfach, das Zeug an die Decke zu bekommen“, meint Schumann. Das Zusammenspiel aus großer Geste und Berliner Nüchternheit macht den 78-Jährigen zu einer schillernden Figur mit beeindruckender Bodenhaftung.

Geboren wurde Schumann 1937 auf der „Roten Insel“ in Schöneberg. Der Vater war Techniker in der Rüstungsindustrie, die Mutter kümmerte sich um Klaus und seinen zwei Jahre älteren Bruder. Ein Großvater väterlicherseits hatte als Ingenieur in China eine Werft gebaut. Bereits mit 12 wusste Klaus, dass er Schneider werden wollte. „Auf dem Weg zur Schule kam ich immer an einem Atelier am Gustav-Müller-Platz vorbei, wo sie mit einem heißen Eisen die Rosshaar-Einlagen in die Anzüge bügelten. Dieser Geruch hat mich -enorm angezogen.“ Das Verdikt des Vaters war verächtlich. „Nur Doofe und Bucklige werden Schneider.“ Dennoch begann Klaus eine Lehre, zuerst als Herrenschneider. Aber Jacketts und Hosen waren nicht seine Welt. Zu sachlich, zu wenig fließende Stoffe, die ihn inspirieren. „Zum Glück kannte die Wahrsagerin meiner Mutter eine Zwischenmeisterei am Kurfürstendamm. Dorthin konnte ich dann wechseln.“ In dem Betrieb, der Kollektionen für Modeschöpfer herstellte, lernte Schumann das Handwerk der Haute Couture. „Wir modellierten den Stoff direkt auf der Schneiderbüste. Jede Kundin hatte ihre eigene.“ Schon springt der agile Mann wieder auf, zieht eine Stoffbahn aus dem Regal und drapiert sie beiläufig über eine Büste. Der Faltenwurf ist so perfekt, dass man sich wundert, wieso man eigentlich bereit ist, viel Geld für ein industriell gefertigtes Designerstück auszugeben, das im Vergleich dazu so plump fällt wie ein Wachstuch für den Küchentisch. Haute Couture bedeutet, dass die Hände und das Auge des Modeschöpfers im Zusammenspiel mit der realen Figur der Trägerin eine Vision entwickeln. „Die Schnitte wurden erst danach erstellt“, erklärt Schumann. Man könnte es auch so sagen: In der Haute Couture passt das Kleid der Trägerin und nicht umgekehrt. Wie viele Schneider, die ihre Kreationen nicht selbst tragen, habe er immer für Idole, etwa Leinwandstars, entworfen, sagt Schumann. „Und natürlich für meine Mutter.“

Seit der Adoleszenz wusste Schumann, dass er sich für Männer interessiert. So auch für einen feurigen Schweiz-Italiener, den er in Berlin kennenlernte. Ihm zog er 1957 nach – ins elegante, vom Krieg unberührte Zürich. „Das war ein positiver Schock“, sagt Schumann. „Ich hatte bis dahin ja noch nie eine intakte Straße gesehen.“ Als 20-jähriger, großgewachsener Exot aus dem fernen Berlin wurde er von den Eidgenossen freundlich aufgenommen. Er fand Anstellung in einem Maßatelier und lebte als möblierter Herr bei einem gutmütigen Ehepaar. Die Besuche seines Freundes versuchte er vor ihnen dennoch zu verheimlichen. „Doch eines Morgens, als er sich gerade aus dem Haus geschlichen hatte, kam die Frau mit einem zweiten Handtuch in mein Zimmer und meinte nur freundlich ‚Falls Sie wieder einmal Besuch haben, brauchen Sie doch ein zweites Tüechli‘.“ Diese diskrete Toleranz der Schweizer – das erste Land Europas, das 1942 homosexuelle Handlungen von Strafe befreite – beeindruckte Schumann sehr. Zürich ist eine seiner glücklichsten Erinnerungen. Das kehlige Schweizer „ch“ beherrscht er noch immer. Gerne wäre er noch viel länger geblieben. „Doch da rief meine Mutter mich nach Berlin zurück.“

Hin- und hergerissen zwischen Sohnespflicht und Selbstbestimmung trat Schumann 1961 die Rückreise nach Preußen an – und ist bis heute geblieben. „Aber Berlin hat mich soo deprimiert.“ Das lag am schwierigen Verhältnis zu seiner Familie. Und es lag auch an Berlin selbst. „Eine Modemetropole ist Berlin nie gewesen“, sagt Schumann. Dazu habe die Kultur der Eleganz ebenso gefehlt wie eine breite Schicht von Reichen. Durch den Mauerbau mussten zudem viele Modefirmen schließen, weil die Fachkräfte nicht mehr zur Arbeit kommen konnten. Schumann stürzte sich in die Freundschaft mit dem legendären Modefotografen Herbert Tobias, dessen spannungsvolle Schwarzweißfotos bis heute unser Bild von der Mode dieser Zeit prägen.

Es ist Mode aus einer Zeit, in der man grelle Farben auch nutzte, um düstere Erinnerungen zu verdrängen. Exaltiert waren dennoch oft nur die Paradestücke. Im Alltag mochte es die Berlinerin eher sachlich. Zwei Mal im Jahr seien die Einkäufer der großen Modehäuser damals nach Paris gereist, um Defilees zu sehen und Originalschnitte mitzubringen, erzählt Schumann. „Die wurden dann in den hiesigen Ateliers nach Berliner Bedürfnissen umgeändert und verwurstet.“ Anfang der Sechzigerjahre wurde die synthetische Trevira-Faser eingeführt, die sich in unterschiedlichste Stoffe verarbeiten ließ – damals eine elegante Neuerung, die in der Haute Couture ohne Hemmung mit edelstem Pelz kombiniert wurde. Schumann arbeitete als Assistent für Günter Brosda, der sich damals – wie etwa auch Karl Lagerfeld – für die neue Faser stark machte. Viele Zeichnungen aus dieser Zeit an Schumanns Wänden zeigen einen Aufbruch: ein praktischer, waschbarer, moderner Stoff mit der großen Geste der Couture. In Schöneberg eröffnete der Couturier seinen ersten eigenen Laden – in einem ehemaligen Fischgeschäft. Er erhielt das Patent für einen selbst entwickelten, ergonomischen Zuschneidetisch. Die Geschäfte liefen gut. Als die ARD im August 1967 einen Tag nach Einführung des Farbfernsehens in Westdeutschland den „Galaabend der Schallplatte“ zeigte, trug die Moderatorin Vivi Bach eine Kreation von Schumann – wobei sie im Lauf der Sendung mehrfach die Varianten wechselte – von grellpink bis himmelblau, um die neue Farbtechnologie auch gebührend zur Geltung zu bringen. Es waren die Jahre des Berliner Mauerglamours – mit Filmfestspielen und Pressebällen als Höhepunkte der Saison. Sie haben Klaus Schumanns Stil geprägt. Viele seiner Kreationen aus jener Zeit sind inzwischen in die ständige Mode-sammlung des Stadtmuseums Berlin aufgenommen. 

Die Achtzigerjahre brachten einen weiteren Einbruch. Das HIV-Virus begann zunächst vor allem unter homosexuellen Männern zu wüten – und nahm direkten Einfluss auf die Modebranche. „Es war scheußlich“, sagt Schumann dazu nur knapp. „Man kam manchmal wochenlang nicht aus dem schwarzen Fummel raus.“ Anfang der Achtzigerjahre hatte Schumann am Kurfürstendamm das Atelier des Modeschöpfers Werner Machnik übernommen. Dieser, Lieblingscouturier der deutschen Hautevolee, war 1980 ermordet worden. „12 Frauen arbeiteten in dem Atelier, und alle rauchten“, erinnert sich Schumann. Die Erwartungen an ihn und seine Entwürfe waren hoch, die Arbeitstage lang und das Kaufmännische wurde bald wichtiger als eine besonders elegante Naht. Ein wenig verlor Schumann trotz des Erfolgs die Freude am Beruf. In diesen Jahren kamen Kundinnen oft jede Saison für eine neue Garderobe. Und wer nach Bayreuth zu den Wagner-Festspielen reiste, tat das natürlich ebenfalls nur mit neuer Robe im Gepäck. Doch nach und nach ist diese Kundschaft weggestorben. „Wenn der Mann starb, blieb für viele Frauen dieser Generation das Leben stehen.“

Auch Klaus Schumanns Lebensgefährte starb. Seit Mitte der Siebzigerjahre lebte das Paar zusammen, es war die große Liebe. 1985 erkrankte der Partner am HIV-Virus. Im selben Jahr gab Schumann das Atelier auf und widmete sich danach bis zu dessen Tod 1995 der Pflege seines Freundes. „Niemand aus meiner Familie schickte eine Kondolenzkarte.“ Schumann rappelte sich auf und fing im heutigen Atelier neu an. Zunächst füllte er nur zwei kleine, verschachtelte Räume mit den Kapiteln seines Lebens und den dazugehörigen Kreationen. Vor fünf Jahren kam dann das heutige Nähzimmer mit dem großen Gemälde eines schicken Faltenrockes dazu. Hier empfängt er nun wieder  langjährige und neu dazugekommene Kundinnen und gibt sein Wissen auch in Kursen und Einzelstunden weiter. „Ich bin Schneider“, so stellt er sich bis heute vor. Mode ist Technik für ihn, Schönheit und Handwerk.

Susann Sitzler

 

67 - Sommer 2016