Weiß oder Weiß

Für den klassischen Purismus gilt, nur wenige Farbtöne werden eingesetzt. Die Formen, ob geometrisch oder organisch, sind prägnant, sie sind wesenhaft ohne Schnurz und Schnörkel. Aber so einfach ist es dann doch wieder nicht.

Purismus ist nicht allein eine Frage der Farbe, obwohl der erste emotionale Impuls darin besteht, sich weiße Wände vorzustellen. Vielleicht noch ein paar Grautöne oder Sichtbeton, wobei mit dieser Assoziation Farbe und Material bereits verschmelzen. Dazu eine eher karge Einrichtung mit bewährten Klassikern, Stahlrohrsesseln, ein berühmtes Daybett und eine auf wenige Linien reduzierte Lampe. Auf keinen Fall ein üppiger Blumenstrauß, sondern ein, zwei Ranunkelstiele. Die Küche aus matten Fronten ohne Griffe, dazu ein Küchenblock mit integriertem Herd, zwei Barhocker. Bevorzugt Running Dinner, am besten im Zelt draußen und für die zweite Seele in der Brust, die Lust auf Erzählung und Erinnerung, das Landhaus. Opulenz ist ein Gegenprogramm, ebenso die Wohncollage mit unbekümmertem Stilmix. Puristen bevorzugen ein überschaubares Ambiente, das nicht nur akustisch, sondern auch optisch jeden Lärm verbannt. Die Geschichte puristisch eingerichteter Räume fängt, wenn man so will, mit den Mönchszellen an und hat sich mit den funktionalen Räumen der Avantgarde des vorigen Jahrhunderts fortgeschrieben. In der Nachkriegsära haben sich eigene Spielarten entwickelt und seit der Jahrtausendwende mit dem Minimalismus ein Repertoire von strenger Kühle bis subtiler Sinnlichkeit dazu erworben.

Begriffe wie „Wellness“ und das japanische „Wabi-Sabi“, ein Konzept das vom Leben gezeichnete schlichte Möbel, helles Holz und eben die Konzentration auf Wesentliches verbindet, (die Bank „Georg“ aus Eiche) signalisieren eine Veränderung im puristischen Denken. Allen gemeinsam ist eine kalkulierte Kargheit, die einem Statement gleicht. Schönheit entsteht, wenn Räume genügend Grundvoraussetzungen bieten, denn vor allem geht es ja um Raumerleben.

Das klug Durchdachte, das Klare und Schöne, auch das Sanfte und Stille, benötigt edle Materialien und deren geheimnisvollen Dialog, um sich erlebbar zu machen. Holz und Metall, Wolle und Leinen, Stein und Stoff, Marmor und Beton, Wasser und Holz. So galt es bisher. So gilt es noch immer. Aber das puristische Ideal mit seinem elitären Gestus erweist sich dank Sperrholz und MDF, dank Ikea und jungen Designern vor allem aber mit neuen unkonventionellen Grundrissen auch für ein Wohnen in 55 Quadratmetern geeignet.

Für den klassischen Purismus gilt, nur wenige Farbtöne werden eingesetzt. Die Formen, ob geometrisch oder organisch, sind prägnant, sie sind wesenhaft ohne Schnurz und Schnörkel. Darf in einer puristischen Wohnung ein Kronleuchter hängen als dramatische Attitüde? Oder um die Reduktion drumherum ins rechte Licht zu setzen? Aber bitte! Es gibt doch noch andere Leuchten (die einer Glühbirne nachempfundene Lampe „Fitting“)! Schön ist indirektes Licht, das den Bewohnern wie den Möbeln wohltut. Auf jeden Fall kein Krimskrams, kein Sammelsurium. Es genügt eine Keramikschale mit einem Quittenblütenzweig, um den Sinnen zu schmeicheln. Puristen wollen das Raumerleben intensivieren. Purismus will eher Stille als Aufgeregtheit, vor allem keine Sinnlosigkeit und – als echte Haltung – keine Ressourcenverschwendung. Die als Purismus benannte Wohnästhetik ist eine Trendkonstante (zwischen all den rasenden Stilwechseln) mit einer wachsenden Anhängerschaft. Der Wohnstil ist global und setzt sich aus mannigfaltigen Facetten zusammen. Es gibt Räume, die changieren zwischen Arztpraxis (Chrom, Stahl, Glas) und leer geräumter Werkhalle (Beton, Stahl, Glas ). Es gibt Räume, als betrete man eine vom Neuschnee verhüllte Steppe (die Weiß-in-Weiß-Puristen). Wohnungen können weichgezeichnet sein, als läge ein zarter Morgennebel über allem (Grautöne, rosé, petrol). Und schließlich gehört auch der reduzierte Schwarz-Weiß-Look in die Verwandlungsgeschichte des Purismus. Schwarz-weiß – als gäben Piet Mondrians Liniengerüste den Halt zum Wohnen.

Der Purismus holt seine ursprünglichen Inspirationen aus Japan, verbindet diese mit skandinavischer Klarheit, trifft auf italienisches Designkönnen, etwa von Michele De Lucci (z. B. der Stuhl „Donzeletta“), besticht durch Reduktion (Ulmer Hocker oder Peter Malys Bett), begegnet französischem und britischem Minimalismus und manifestiert sich in den eleganten Lofts Schweizer Banker. Letzteres wäre wohl eine verengte Sicht, wenngleich die Schweiz mit ihrer rationalistischen Architektur, einer Baukultur aus edel und pragmatisch eine ausgesuchte Spielwiese für Puristen ist.
Das große gedankliche Aufräumen hatte ein erstes konsequentes Formprogramm mit der Bauhausmoderne. Die spätere elegante Schwester, der Minimalismus, ermöglichte die materialtechnische Reduktion auf lineare Anmutung mit haptisch angenehmen Oberflächen. Die LED-Evolution erbrachte nicht nur ein anderes Licht, sondern die filigranen Lampen dazu. Seitdem werden Räume kreiert, die mit pudrig sanften Farben und zunehmend weich gerundeten Formen, mit Sofa, Sessel, Beistelltisch an Raffinesse gewonnen, aber an Klarheit nichts eingebüßt haben. Puristen sind eine Klasse für sich, dabei ganz verschieden und dennoch oftmals (ja, es gibt sie!) unbeirrt dem Weiß und auf jeden Fall dem Wenigen zugetan. Bunte Kissen, die ein Sofa zustellen, sind dem wahren Puristen ein Gräuel. Eine im tiefen Sattviolett gestrichene Wand im Kontext mit Grau, das kann noch durchgehen. Purismus und Farbe sind kein Feindschaftsverhältnis mehr, sondern eine Mengenlehre.
Gibt es mitunter auch ein Dilemma, eine Falle für die feine Ästhetik?

Nicht selten ist das schöne Programm leichter gesagt als getan bzw. als durchgehalten, zwei, drei Jahre, nachdem alles renoviert und reduziert wurde. Um Gottes Willen, fragt sich der Purist, wohin mit den misslichen Präsenten oder gibt es niemanden, der auf die Idee kommt, aus purer Liebe das falsche Accessoire zu schenken? Kommt alles gleich in die Kiste oder existiert ein Ritter-Blaubart-Zimmer für den Überschuss an Zuwendung, für die überlebten Dinge? Purismus ist auch eine ständige Korrektur des potenziellen Zuwucherns.

Die Räume selbst müssen Luft, Harmonie, Nischen und möglichst unverstellte Wegstrecken bieten. Es ist ein Unterschied, ob ein Sofa an der Wand lehnt oder frei im Raum platziert werden kann, ob in einem kleineren Zimmer aus puristischer Weisheit nur eine Bank die Gäste aufnimmt oder ein Stuhlgemenge freundlich wirkt, jedoch Raum und Blick verstellt, ob ein Einbauschrank die notwendigen Zugaben des Lebens verstaut oder auf jedem Bord ein Porzellanhund wacht.

Wankelmütige Puristen lieben ihre weißen Wände als Projektionsflächen wechselnder Wohnstile. Alle Farben waren hier schon zu Hause und statt einem monochromen Flachwebteppich versetzen Floralornamente das Auge in Unruhe. Na gut, alles nur ein Aufleuchten der Fantasie, das Nachflimmern der unzähligen Tageseindrücke und kurzzeitigen durch die Messen jagender Stilimpressionen; ebenso schnell an- wie ausgeknipst. „Fulltimepuristen“ kommt freilich solch gedankliches Mäandern nicht in den Sinn. Ihre Fantasie entzündet sich daran, wie man immer noch konsequenter eine Raumleere mit edlen Klassikern oder zeitgenössischen Möbeln herstellen kann, ohne auf Komfort zu verzichten. Ihre Wohnwelt wandelt sich wie eine Slowmotion-Videoinstallation. Denn Ruhe und Raum gehen hier eine Symbiose ein wie woanders Rausch und Ramsch.

Anita Wünschmann

 

73 - Winter 2018