Lob der Mietskaserne

Die bauliche Entwicklung Berlins steht in vielen Punkten beispielhaft für das Werden der europäischen Stadt. Jetzt blickt der Stadtplaner und Architektursoziologe Harald Bodenschatz auf die Geschichte des Berliner Städtebaus zurück – und hält ein Plädoyer für die einst gescholtene Mietskasernenstadt.

Es hätte auch alles ganz anders kommen können. Dann zum Beispiel, wenn der von Hermann Jansen 1910 entworfene Plan umgesetzt worden wäre, auf dem Tempelhofer Feld – auf dem dann 13 Jahre später der Flughafen eröffnet werden sollte – mehrgeschossige Wohnhäuser zu bauen. Oder dann, wenn sich der Bauhaus-Exponent Ludwig Hilberseimer mit seinem 1928 vorgelegten Projekt zur Modernisierung des Stadtzentrums durchgesetzt hätte, das vorsah, die Blöcke beiderseits der Friedrichstraße dem Boden gleichzumachen und an ihrer Stelle langgestreckte, von Osten und Westen belichtete Zeilenbauten zu errichten. Oder, um ein bekannteres Beispiel zu nennen, wenn Albert Speers gigantomanische Pläne für die „Welthauptstadt Germania“ Wirklichkeit geworden wären.
Städtebau, das macht die Lektüre von Harald Bodenschatz' neuem Buch „Städtebau in Berlin“ deutlich, folgt keinen Naturgesetzen, sondern ist von Menschen gemacht. In geraffter Form schildert der an der Technischen Universität Berlin lehrende Architektursoziologe die wichtigsten Phasen der Berliner Stadtentwicklung: das starke Wachstum in der Gründerzeit, die Suche nach neuen städtebaulichen Formen und Wohnungstypen in der Zwischenkriegszeit, den Stein gewordenen Kampf der Ideologien im Kalten Krieg, schließlich den Umbruch der Nachwendezeit.
Dabei geht er vor allem einer Frage nach: nämlich der, ob der vom Architektursoziologen Werner Hegemann (1881-1936) und anderen Kritikern erhobene Vorwurf zutrifft, dass die Bauform der Mietskaserne schuld sei an den sozialen Problemen der Stadtbewohner. „Für viele Reformer war das städtische, mehrgeschossige Mietshaus an sich das Übel“, hält Bodenschatz fest. „Diese tendenziell anti-städtische Einstellung hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg nicht durchsetzen können, beherrschte aber nach dem Ersten Weltkrieg die weitere Entwicklung Berlins.“
Für Bodenschatz dagegen stellt das mehrgeschossige, in dichter Bebauung angeordnete Wohnhaus einen zukunftsträchtigen Bautypus dar. Er weist darauf hin, dass dieser Typus keineswegs nur in Form der berüchtigten Mietskasernen des 19. Jahrhunderts mit ihren engen, dunklen Hinterhöfen realisiert wurde. Vielmehr seien „unter dem weiten Mantel der Mietskasernenstadt ganz unterschiedliche städtebauliche Realitäten vorzufinden“ – und zwar auch solche für das wohlhabende Bürgertum. Der Kurfürstendamm, das Bayerische Viertel in Schöneberg und das Rheinische Viertel um den Rüdesheimer Platz gelten ihm als Beispiele dafür, wie es gelang, mit einer mehrgeschossigen Blockrandbebauung anspruchsvolle Wohnbedürfnisse zu befriedigen und gleichzeitig hochwertigen Städtebau zu schaffen. Dadurch bot sich den wohlhabenden Bevölkerungsschichten eine Alternative zu den Gartenstädten und Villenvierteln, wie sie natürlich auch in Berlin – etwa in Frohnau und Lichterfelde – entstanden.
Während diese „Urbanisierung des Bürgertums durch anspruchsvolle,
attraktive Stadterweiterungen“ in den neuen innerstädtischen Vierteln die volle Zustimmung von Bodenschatz findet, ist seine Kritik an den nach dem Zweiten Weltkrieg außerhalb des Stadtzentrums entstandenen Wohngebieten nicht zu überlesen. In West-Berliner Großsiedlungen wie dem Märkischen Viertel und den Ost-Berliner Plattenbausiedlungen erkennt er ein „erhebliches Potential an sozialen Konflikten“.
Dass in den siebziger Jahren engagierte Stadtbewohner den Widerstand gegen die Kahlschlagsanierung der gründerzeitlichen Wohnviertel aufnahmen und – besonders überzeugend am Kreuzberger Chamissoplatz – zeigten, welch hohe Qualität die angeblich so menschenunwürdigen Mietskasernen aufweisen, stellt für Bodenschatz eine entscheidende Zäsur in der Nachkriegsentwicklung dar. Dieser Widerstand, schreibt er, sei „der Einstieg in den Abschied vom modernen Städtebau in West-Berlin“ gewesen und darüber hinaus „der Beginn des Niedergangs der Unternehmen der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft“ – die waren nämlich für die großen Abrissmaßnahmen in Wedding und Kreuzberg verantwortlich. Wie eine Ironie der Geschichte mutet es an, dass gerade diese städtischen Wohnungsbaugesellschaften derzeit in der öffentlichen Wertschätzung eine Renaissance erfahren, da sie als Bollwerke gegen steigende Mieten und Verdrängung von Mietern gelten.
Was die jüngste Vergangenheit betrifft, so konstatiert Bodenschatz, dass die Phase der großen Nachwendeprojekte 1999 beendet und durch eine Phase der Stagnation abgelöst worden sei. Hier muss man kritisch nachfragen: Zwar sind in den letzten Jahren tatsächlich keine Großprojekte von der Dimension des Potsdamer Platzes oder der Regierungsbauten mehr fertiggestellt worden. Kaum weniger bedeutend sind aber die zahlreichen Bauvorhaben, die von der Wiedergewinnung der Innenstadt durch ihre Bürger zeugen: Projekte wie die Townhouses auf dem Friedrichswerder, die Prenzlauer Gärten neben dem Volkspark Friedrichshain, aber auch kleinere Neubauten auf Brachflächen und in Baulücken sind Beleg dafür, welche Anziehungskraft die historisch gewachsene Innenstadt gerade in einer von der Geschichte so gebeutelten Metropole wie Berlin noch immer ausübt.
Paul Munzinger
 

43 - Sommer 2010