Park am Gleisdreieck

Joseph Roth im Hochgras. Eine Fiktion. Es ist nicht wahr geworden, was Joseph Roth 1924 über die Zukunft des Gleisdreiecks prophezeite: „Schüchtern und verstaubt werden die zukünftigen Gräser zwischen metallenen Schwellen blühen. Die ‚Landschaft‘ bekommt eine eiserne Maske.“ Nein, das Gleisdreieck hat die Eisenfratze der Industrialisierung abgelegt, und das Gras wächst mutig, ist erlaubt. Hier ist ein Park geworden, der Park am Gleisdreieck.

Schickten wir dem österreichischen Autor eine Postkarte in seine Zeit, dann läse er von Hagebuttenbüschen mit durchaus wehrhaften Dornen, die heute zwischen verrosteten Gleisen wachsen und von kleinen Wäldern mit ausgewachsenen Pappeln, Birken, Robinien, die die Brachialität des Eisenbahnzeitalters Stamm für Stamm geduldig zersetzen. In der „Gleiswildnis“, den unzugänglichen Brachen im Park, wird offensichtlich, dass sich die Natur die von Menschenhand gebaute Umwelt, in diesem Falle den alten Berliner Eisenbahnknotenpunkt, spielend zurückerobert, wenn man sie lässt.

Vom einstigen Schienendschungel am Gleisdreieck durchziehen heute den Park nur noch vier intakte Bahntrassen: die U1, U2, die ICE-Fernbahn und die Museumsbahn des Technikmuseums, die an den Sonntagen im September nach Süden bis zum Lokdepot fährt.

Roth schreiben wir also, wie die Leute heute genüsslich auf der Rampe des ICE-Tunnels liegen, lesen, ja ein Nickerchen machen, weil moderne Eisenbahnen leise sind. Nur ab und zu hören die Parkbesucher das entfernte Quietschen der U2, die sich durch die Trassenkurve vom U-Bahnhof Gleisdreieck zur Bülowstraße quält, wiehernd wie ein leidendes Pferd, während die U1 dahinrauscht wie ein Pfeil. An diese Geräuschkulisse gewöhnt man sich schnell. Sie macht den Park unverwechselbar. Auch das Visuelle: Ein kräftiges, warmes Gelb durchzieht den Park. Es leuchtet mit Renzo Pianos Terrakotta-Fassaden aus der Entfernung vom Potsdamer Platz, verankert sich mit den Backsteinpfeilern der Hochbahnen im Grünen. Die Baukräne, die im Westpark neue Wohnungen an der Flottwellstraße bauen, sind ebenfalls gelb. Eigelb sogar sind die U-Bahnwagen, manche auch orange. Sie machen dieses ästhetische Motiv mobil, bringen es in den Schöneberger Norden, in die Kieze der Kurfürstenstraße und des Bülowbogens. Oder sie holen es von dort, je nachdem wie man es gerade erlebt. Sieht aus, als fiele Goldstaub auf die Wiesen, auf das Hochgras, das mannshoch einem Roggenfeld gleicht und im Wind hin und her wiegt, friedlich und schön. Joseph, du würdest ihn lieben, diesen Park. Dein „Bekenntnis zum Gleisdreieck“ sollte keinen Tag länger Bestand haben, nähme man dich an die Hand und zeigte ihn dir.

Da legte Roth die Postkarte beiseite und beschloss einen Ausflug in die Zukunft. Schüchtern geht er die asphaltierten Wege an der Schöneberger Wiese entlang, irritiert von den vorbeiradelnden, entspannten Menschen, verwundert über die neuen Trendsportarten, entzückt über schaukelnde Kinder. Bald verirrt er sich in der Kleingartenkolonie, in der eine Sackgasse endet. Bald entdeckt er ein Café, das vollkommen ohne To-go-Angebote auskommt, was ihm entgegenkommt, denn er kennt so etwas nicht. Hier sitzt er, sieht am Horizont zwei Schornsteine, aus denen kein Rauch aufsteigt. Da springt er wieder auf, jagt gen Himmel. Denn hatte Joseph ihn nicht ganz anders gesehen, seinen „Himmel, dem die kilometerhohen Schornsteine der Fabriken, lebendigen, zeugungsträchtigen, Bewegung fördernden Rauch darbringen?“

Eine Ahnung packt ihn, als er im Ostpark unter seinen Füßen groß geschrieben „Generalszug“ liest. Er blickt nach Westen, dann nach Osten: In beiden Richtungen sieht er Kirchtürme, die den ursprünglich geplanten Verlauf des berühmten, mit Schmuckplätzen durchsetzten Straßenzugs aus dem 19. Jahrhundert markieren. Da begreift Roth, dass sein Gleisdreieck untergegangen sein muss, denn die „eiserne Landschaft“ machte es nötig, dass James Hobrecht die preußische Prachtstraße, da wo sie heute Yorckstraße heißt, in einem Schlenker um die Gleise der Potsdamer, Anhalter und Dresdner Bahn herum entwerfen musste. Roth erstarrt, als er die „Gleiswildnis“ sieht. Schneller geht er, immer schneller, bis er am Technikmuseum in das frische, zitronengelbe Licht einer Gaslaterne blickt, das Licht seiner Zeit. Eine Träne läuft ihm über die Wange. „Das von zehntausend Laternen durchsilberte Tal“, wie er einst schrieb, gibt es nicht mehr. Wir haben es durch Zehntausende Stängel, Stauden und Wackersteine ersetzt, die die Wege säumen. Aber lassen wir Joseph Roth bei seiner Laterne stehen. Die Museumsbahn wird ihn bei Gelegenheit abholen und zurück nach 1924 bringen.

Uns, die wir in der Gegenwart bleiben, bietet der Park am Gleisdreieck neben ausgefallener Ästhetik und überraschenden Erlebnisräumen auch Erkenntnisse in Sachen Berliner Stadt
entwicklung. Es gäbe den Park nicht ohne den Städtebau des Potsdamer Platzes, denn er wurde größtenteils aus Ausgleichs- und Ersatzmitteln des Projekts finanziert. Danke Daimler, danke Sony. Und auch das nach Worten Klaus Wowereits „hässliche“ Alexa vom Alexanderplatz hat im Park Spuren hinterlassen: Der Sand von Beach61 stammt aus seiner Baugrube. „Betongold“ kann in Berlin also der Preis sein für Parkästhetik und grüne Infrastruktur. 

Außerdem lassen die Neubauten von „Flottwell Living“ an der Flottwellstraße erahnen, wie sich in Berlin Parkrandbebauung anfühlt. Die Stadt rückt ans Grün heran. So war das vor dem Volksentscheid auch am Tempelhofer Feld gedacht, nur in größerem Umfang. Im Park am Gleisdreieck können wir sehen, wie das wirkt und ob das Wohnen am Park mit dem Leben im Park funktioniert. 

Das Fantastische des Parks ist der Radweg Berlin-Leipzig, der seit dem Frühling auch über eine der Yorckbrücken führt. Er endet vorläufig am Lokdepot des Technikmuseums, wohin auch die Museumsbahn mit oder ohne Joseph Roth fährt. Aber bald wird es auf der anderen Seite der Monumentenbrücke parallel zu den S-Bahngleisen, an „metallenen Schwellen“ vorbei, bis zum Südkreuz weitergehen.

André Franke

 

60 - Herbst 2014
Stadt