Der Mensch und sein Genius

Inspiration und künstlerisches Schaffen sind untrennbar miteinander verbunden. Doch der geniale Gedanke birgt Segen und Fluch gleichermaßen.

Kreative Einfälle und Gedanken, auf die Künstler, Dichter, Musiker, Regisseure, Wissenschaftler, Ingenieure, Leistungssportler, Gourmetköche und sogar Lehrer und Politiker geradezu angewiesen sind, um erfolgreich zu sein, sind keineswegs selbstverständlich und immer abrufbar. Wenn auch besonders Künstler und Dichter von genialen Einfällen beseelt sind, bedarf es oftmals erst eines Anstoßes oder einer Inspirationsquelle. Das kann eine bestimmte Situation sein, in der man sich gerade befindet, ein spezieller Geruch, eine Gefühlsregung, das Werk eines anderen Künstlers oder ein Ort, von dem eine Faszination ausgeht. Theodor Fontane beispielsweise hatte die Idee für seine „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, als er in Schottland unterwegs war. Friedrich Schiller soll sich vom Geruch faulen Obstes für seine Dramen inspiriert haben lassen und Karl Friedrich Schinkel wäre ohne seine Reisen nach Italien sicher nicht zum bedeutendsten klassizistischen Baumeister avanciert. Von Bach, Wagner, Mahler und den Beatles beispielsweise profitieren noch immer nicht wenige Komponisten und natürlich lassen und ließen sich Künstler und Dichter auch von anderen Künstlern und deren Werken inspirieren.

Das zeigt eindrucksvoll die kommende Ausstellung „Rodin – Rilke – Hofmannsthal“ in der Alten Nationalgalerie. Im Mittelpunkt steht Auguste Rodins Bronzeskulptur „Der Mensch und sein Genius“. Die 1896 entstandene Figurengruppe zeigt mit einem Mann, dem sich ein kleiner weiblicher Genius mit Schwingen entzieht, das Sinnbild künstlerischer Inspiration. Von dieser Bronzeskulptur empfingen auch zwei bedeutende Literaten Anregung für ihr eigenes Werk: Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal. Rilke traf Rodin mit 25 Jahren das erste Mal und arbeitete zeitweise als dessen Sekretär. Er bewunderte den Bildhauer, der in seiner Skulptur auch einen jungen Helden sah, dem sich die kleine Nike entzieht. Rilke inspirierte das später zum Gedicht „Nike“. Ähnlich begeistert von Rodins Werk, von „einem der größten Künstler aller Zeiten“, war ebenso Hugo von Hofmannsthal, als er Rodin im März 1900 in dessen Atelier besuchte. Dort gab er die Bronze in Auftrag, um sie als Inspirationsquelle in sein Arbeitszimmer zu stellen: „Ich habe die Skizze von 4 oder 6 Erzählungen wie im Fieber hingeschrieben, … und sitze … wie Rodin zwischen Gypshänden, Füßen und abgebrochenen Flügeln.“

Die Ausstellung der Alten Nationalgalerie zeigt aber auch deutlich, wie vielfältig die künstlerische Muse um 1900 in anderen Kunstwerken zum Ausdruck kommt. So sind neben Rodins Meisterwerken aus der Sammlung der Nationalgalerie Leihgaben aus dem Musée Rodin in Paris und der Bremer Kunsthalle zu sehen.

Göttliche Eingebungen, Sternstunden des Geistes kommen allerdings weniger aus himmlischen Sphären, sondern wohl eher aus dem eigen Gehirn, über Tausende von Synapsen, die das bewusste und unbewusste Denken anregen oder auch nicht. In diesem Labyrinth den genialen Einfall zu finden, ist der immerwährende Segen des Künstlers, aber auch sein Fluch, wenn die Inspiration ausbleibt. Auf der Suche nach einem neuen Einfall wurde zu allen Zeiten und wird durchaus mit Stimulantien nachgeholfen. Beispiele gibt es zuhauf. „Es liegen im Wein allerdings produktivmachende Kräfte bedeutender Art“, äußerte Goethe gegenüber Eckermann, und Georg Christoph Lichtenberg bekam offensichtlich ohne Alkohol nur wenig aufs Papier: „Ohne das ist nichts auf der Welt.“ Voltaire nahm täglich Opium zu sich und E.T.A. Hoffmann floh mit Alkohol in seine Traumwelten: „…  man muss immer trunken sein.“ Johann Sebastian Bach reichten Unmengen von Kaffee, um komponieren zu können, Gottfried Benn half dagegen nicht selten mit Kokain nach. Er wusste allerdings auch um die Kehrseite dieser Droge. Ob Alkohol, Absinth, Opium, Kokain, oder Haschisch, in geringen Mengen zu sich genommen, können diese Drogen sicherlich bewusstseinserweiternd sein. Doch wenn die Droge zum alleinigen Antriebsstoff für Kreativität und Inspiration wird, sind die Folgen absehbar und führen nicht selten zum tragischen und frühzeitigen Tod. Das beweisen die zahlreichen Todesfälle berühmter Künstler, Literaten und Musiker bis in unsere Zeit.

Die moderne Gehirnforschung zeigt einen anderen Weg auf, um dem Bewusstsein auf die Sprünge zu helfen: Man solle aufhören, zielgerichtet zu denken. Denn angestrengtes oder gewohntes Denken folge meist nur bekannten Mustern und ziele auf längst abgespeicherte Ideen. Inspirationsquelle kann dabei vieles und alles sein. Aber dass sie nicht ständig sprudeln wird, damit sollte sich nicht nur jeder Künstler abfinden.

Reinhard Wahren

 

Information

Ausstellung
Rodin – Rilke – Hofmannsthal
Der Mensch und sein Genius
Vom 17. November 2017 bis 18. März 2018
Alte Nationalgalerie
Bodestraße 1–3 10178 Berlin

 

 

72 - Herbst 2017
Kultur