Spiegel der Gesellschaft

Selten gezeigte Bilder des Kupferstichkabinetts geben Einblicke in die Kunst der 1920er Jahre

Für Kuratorin Dr. Anita Beloubek-Hammer muss die Sichtung der Bilder zur Ausstellung unter dem Titel
„Gefühl ist Privatsache. Verismus und Neue Sachlichkeit“ aus dem Bestand des Kupferstichkabinetts mit besonderer Freude verbunden gewesen sein, denn viele Bilder sind noch nie gezeigt worden – und überraschenderweise sind sogar Bilder aufgetaucht, deren Maler selbst die Kuratorin nicht kannte. So zeigt die Ausstellung schließlich insgesamt 150 Werke, hauptsächlich Aquarelle und Zeichnungen, davon dreißig Leihgaben, die eine Zeit widerspiegeln, deren Wirklichkeit von Extremen bestimmt war und deren Mythen uns bis heute faszinieren.
Am Eingang zieht den Besucher zunächst ein Film über die 1920er und 1930er Jahre in das Berlin der damaligen Zeit. Die Ausstellung selbst schlägt einen Bogen vom 1. Weltkrieg bis zum Ende der Weimarer Republik, die mit Nachkriegszeit, Elend, Besatzung, politischen Umbrüchen und einer Veränderung der Arbeitswelt zu den prägenden und nachhaltigsten Zeitabschnitten des 20. Jahrhunderts gehört.
Das ist vermutlich der Grund dafür, dass auch die zeitgenössischen Künstler ein besonderes Interesse an der Darstellung der Wirklichkeit entwickelten. Mit Verismus und Neuer Sachlichkeit thematisiert die Ausstellung zwei der damals wichtigen Kunstrichtungen. Deren Vertreter, zu denen vor allem Künstler wie George Grosz, Max Beckmann, Otto Dix, Conrad Felixmüller, Otto Griebel, Rudolf Schlichter und Kurt Günther gehören, lehnten das subjektive Empfinden der bis dahin vorherrschenden Expres-
sionisten der Vorkriegszeit als „Geist-Kult“ ab. Sie postulierten nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges die Darstellung der nüchternen realis-
tischen Wirklichkeit. „Der Verist hält seinen Zeitgenossen den Spiegel vor die Fratze. Ich zeichnete und malte aus Widerspruch und versuchte durch meine Arbeiten diese Welt davon zu überzeugen, dass sie hässlich, krank und verlogen ist“, notierte George Grosz 1925. Der Verismus, ab 1920 als Begriff bekannt, wurde als eine Art entschiedener Naturalismus – oft ins Groteske verzerrt – verstanden, für den vor allem die Zeichnung als analytischer Ausdruck der gesellschaftlichen Zustände charakteristisch ist. Als Überbegriff kam dann der bis heute gängigere, von Gustav Hartlaub geprägte Begriff der Neuen Sachlichkeit auf. Zwar dem Verismus formverwandt, waren die Motive der Neuen Sachlichkeit infolge von Krieg und Inflation dem zunehmenden Bedürfnis nach Normalität, stiller Schönheit und Genuss geschuldet. Selbst die anfangs noch sehr kritischen
Veristen wie Beckman und Dix richteten nun ihren Blick auch auf das ganz normale Alltagsleben. Zu den weniger bekannten Künstlern der Neuen Sachlichkeit gehören beispielsweise Alexander Kanoldt, Carlo Mense, Georg Schrimpf sowie Franz Radziwill, der auch seine Bildmotive in der neuen industrialisierten Arbeitswelt suchte.
So nimmt dieser Bereich der Ausstellung mit „Alltag“, „Akte“, „Bildnis“, „Stadtbilder“ und „Landschaften“ den größten Raum ein – mit einem Einblick in die „Golden Twenties“, der kurzen wirtschaftlichen Blütezeit nach 1923, die mit jenem „Kult der Zerstreuung“ breiteste Schichten der Bevölkerung erfasste. Der
Titel „Hoppla, wir leben!“ des zeitkritischen Reportagestücks von Ernst Toller hat diese wohl einzigartige, bizarr anmutende Lebensbefindlichkeit am treffendsten charakterisiert.
Die Ausstellung endet mit der um 1930 stärker werdenden proletarisch-revolutionären Kunst, vertreten durch Künstler wie Curt Querner, Lea und Hans Grundig sowie Wilhelm Lachnit. Diese Künstler knüpften mehr oder weniger an den Duktus der kritischen Veristen an.
Nach 1933 wurden natürlich zunächst die kritischen Veristen aus ihren Ämtern entfernt und gingen teilweise in die Emigration. Aber auch kaum einer der unpolitischen Künstler der Neuen Sachlichkeit konnte sich mit dem künstlerischen Verständnis der Nazi-Ideologie anfreunden. Neben den Bildern der Ausstellung stehen gut ausgewählte Zeitkommentare, wodurch in komprimierter Weise ein eindrucksvolles Gesamtbild der 1920er Jahre deutlich wird.
Reinhard Wahren

Ausstellung

Gefühl ist Privatsache. Verismus
und Neue Sachlichkeit

  • Bis 15. August 2010
    Kupferstichkabinett,
    Kulturforum am Potsdamer Platz
    Matthäikirchplatz 8
    10785 Berlin
43 - Sommer 2010