Stahl in siebenter Generation

Vor 70 Jahren entstand im Osten der DDR, in direkter Nachbarschaft zum Stahlwerk, die sozialistische Planstadt Eisenhüttenstadt. Heute ist sie Deutschlands größtes Flächendenkmal. Coronabedingt mussten die großen Jubiläumsveran-
staltungen in diesem Jahr ausfallen.

Es war ein Glücksfall. Der amerikanische Schauspieler Tom Hanks besuchte in den Jahren 2012 und 2014 Eisenhüttenstadt. Bei seinem zweiten Besuch verließ er die Stadt mit einem himmelblauen Trabant. Er hatte mit ihm zuerst eine Probefahrt unternommen. Der Trabi steht heute in Kalifornien in einem Automobilmuseum. Doch damit nicht genug. Später schwärmte Hanks sowohl in der Late-Show von David Letterman als auch bei Wetten dass..? von der „Iron Hut City“ – eine willkommene Vorlage für die Marketingabteilung der Stadt. Seine Begleiter erinnerten sich später an das große Interesse des Hollywood-Schauspielers für die Architektur. Immer wieder habe er nachgefragt. So konnte er kaum glauben, dass die Häuser mit den großen grünen Innenhöfen damals wirklich für die Arbeiter gebaut worden sind. Die Wohnkomplexe stehen heute unter Denkmalschutz – genauso wie die dazugehörigen Einrichtungen als Einzeldenkmale, darunter das Rathaus, das Theater, die Schulen und Kindergärten. Damit steht ein großer Teil Eisenhüttenstadts unter Denkmalschutz. Geht man durch die Innenstadt, fallen die breiten Straßen auf und die großen zentralen Plätze. Immer wieder wird man an Berlins Karl-Marx-Allee erinnert, die in derselben Zeit gebaut worden war. Die Journalistin Sabine Rennefanz ist in Eisenhüttenstadt geboren. In ihrem Buch „Eisenkinder“ schreibt sie: „Hier sollte nach dem Krieg der neue Mensch geformt werden, der siegessicher und stolz in eine bessere Zukunft marschiert“. Gegründet 1950 als Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost, wurde die Stadt 1953 in Stalinstadt umbenannt. Der Name Eisenhüttenstadt folgte 1961, als sich Stalinstadt mit dem angrenzenden alten Fürstenberg vereinigte. Die Einwohner nennen ihre Stadt bis heute nur kurz und knapp „Hütte“.

Martin Maleschka ist Architekt und auch gebürtiger Eisenhüttenstädter. Für den Veranstalter Berlins Taiga führt er durch seine Heimatstadt. Das Besondere an Eisenhüttenstadt sei ihre „städtebauliche und architektonische Einzigartigkeit im geschichtlichen Rückblick, gerade auch, weil sie in nur 70 Jahren einen rasanten Auf- und Abschwung erlebt hat“. Das zeigt sich allein an der Einwohnerzahl. Waren es 1990, im Jahr der deutschen Einheit, noch über 50 000 Eisenhüttenstädter, so sind es heute nicht einmal mehr 24 000. Die Konsequenz war ein weit reichender Stadtumbau. Während die denkmalgeschützte Innenstadt aufwändig saniert wurde, wurden an den Rändern 6 200 Wohnungen abgerissen. Das Stahlwerk beschäftigt nur noch einen Bruchteil der Mitarbeiter, die einst hier angestellt waren. Trotzdem ist das Stahlwerk immer noch der größte Arbeitgeber. Für den Ministerpräsidenten Brandenburgs Dietmar Woidke schlägt hier das „stählerne Herz Ostbrandenburgs“.

Wenn das Rathaus geöffnet ist, beginnt Martin Maleschka seine Führung im Foyer. Am Stadtmodell erklärt er Lage, Aufbau und Rückbau der Planstadt. Eindrucksvoll ist auch das monumentale Natursteinmosaik „Unser neues Leben“ von 1958 nach dem Entwurf von Walter Womacka. Es nimmt eine ganze Wand in der Halle ein und ist zweifellos eines der bekanntesten Fotomotive in Eisenhüttenstadt. Das Glassteinmosaik von 1965 an der Rückwand des ehemaligen Textilkaufhauses Magnet, das im Laufe des Stadtrundgangs zu sehen ist, stammt ebenfalls von Womacka. „Hier lässt sich gut ein Vergleich anstellen, die Entstehungszeit, die Technik und das Motiv betreffend“, sagt Martin Maleschka. Ein Höhepunkt des Rundgangs ist auch das einstige Großrestaurant Aktivist mit der angeschlossenen Bierstube. In letztere kann man auch heute noch gut und stilgerecht einkehren, nicht nur zum Bier. Die Öffnungszeiten sind allerdings etwas eingeschränkt. Maleschka beendet seine Führung zwischen den Wohnkomplexen III und IV, die Mitte der 1950er- bis Anfang der 1960er-Jahre entstanden sind. Wer dann noch Zeit hat, dem sei ein Besuch des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR empfohlen. Allein das Gebäude, in dem das Museum untergebracht ist, ein ehemaliger Kindergarten, ist einen Besuch wert. Neben den Exponaten aus dem Alltag der DDR-Bürger ist bis Februar 2021 eine Ausstellung des Fotografen Roger Melis zu sehen.

70 Jahre Eisenhüttenstadt, und wie geht es weiter? Fragt man Bürgermeister Frank Balzer, wie er sich seine Stadt in 50 Jahren vorstellt, dann wünscht er sich, dass die „Produktion in einem der grünsten integrierten stahlproduzierenden Unternehmen Europas in dann nunmehr siebenter Generation weitergeführt wird. Dazu käme weiterverarbeitende Industrie und nicht zu vergessen unser internationaler Bildungscampus Gesundheit“. Berlin wäre dann durch eine Magnetschwebebahn angebunden und die Fahrzeit betrüge nicht einmal 30 Minuten. Vielleicht lässt sich Eisenhüttenstadt ja tatsächlich als eine Art denkmalgeschützter Vorort der Metropole träumen, als Gartenstadt mit Stahlwerk und modernem Bildungscampus.

Karen Schröder

 

84 - Herbst 2020