Lost and found

Karina Wendt ist Glasmacherin in Brandenburg. Sie hatte eine einmalige Idee. Was macht man bloß mit den alten Deckeln, wenn das Gefäß zerschlagen ist? Glasdesignerin Karina Wendt, 34 Jahre alt, lässt sich von ihnen künstlerisch inspirieren.

Ihr Großvater war Maler. Die Mutter ist Grafikerin. Karina Wendt, aus Neuss stammend, lebt heute mit ihrem Partner und dem gemeinsamen Sohn im brandenburgischen Klein Ziescht im Landkreis Teltow/Fläming. Nur einen Katzensprung von dort entfernt befindet sich im idyllischen Baruther Urstromtal das Museumsdorf Baruther Glashütte. Erlebnisort für Kultur und Handwerk nennt es sich, ist ein Flächendenkmal und dabei ein sehr lebendiges Dorf mit Cafés, kleinen Geschäften, Galerien, einem Museum und einem aktiven Glasstudio, in dem Karina Wendt sich hin und wieder einmietet, um ihre Ideen zusammen mit einer professionellen Glasmacherin umzusetzen.

Karina Wendt studierte Produktdesign und fokussierte sich dann auf die Herstellung von Glas an der berühmten Kunsthochschule Halle Burg Giebichenstein in Sachsen-Anhalt. Glas als Werkstoff hatte sie schon immer beeindruckt. Irgendwann war ihre Mutter aus dem Rheinland nach Baruth in ein kleines Bahnwärterhaus gezogen. Seitdem arbeitet sie dort als Künstlerin und verkauft im Museumsdorf ihre Papierarbeiten im eigenen Laden in Baruth.
Es dauerte nicht lange, dann machte genau dort Karina ihr Praktikum am Studio-Ofen. 2016 lernte sie in Baruth auch ihren Lebensgefährten kennen, der ebenfalls aus einer Künstlerfamilie stammt, die im Museumsdorf längst Fuß gefasst hatte.

Schon 1716 hatte Friedrich-Sigismund II, der Graf zu Solms-Baruth hier eine Glasmachersiedlung mit Schule, Wohnhäusern und einem Gasthaus bauen lassen. In den umliegenden Wäldern fand man genügend Holz, um die Pottasche für die Herstellung von Glas zu gewinnen. Die Baruther Manufaktur wurde mit mundgeblasenen Lampenschirmen und bunten Fensterscheiben schon im 19. Jahrhundert berühmt.

Heute ist der einstige Wohnort des Grafen, das Schloss Baruth, ein Veranstaltungsort. In seiner Glasmachersiedlung, die jetzt fein restauriert ist, wurde noch bis 1980 Glas hergestellt. 1991, mit der Wiedervereinigung Deutschlands wurde der Verein Glashütte gegründet, aus dem 2006 schließlich das Museumsdorf Baruth hervorging.

Baruth ist ein lebendiger Ort mit Vorgärten, in denen die Bewohner harken und zupfen und die Vorbeigehenden freundlich grüßen. Die Galerie Packschuppen – die Wendts Schwiegereltern betreiben – in einem der historischen Gebäude, das lange Zeit als Lager für Glasprodukte diente, ist ein heller, lebendiger Ort. Karina Wendt und andere Künstler, auch Maler, Grafiker und Bildhauer stellen dort aus.

Karina Wendts Vasen, Schalen, Gläser oder Karaffen sind vorwiegend in zarten Farbtönen geblasen und von Hand geformt. Absoluter Hingucker sind die von der Künstlerin als Schmuckstücke bezeichneten Töpfchen. Ein jedes ist anders. Streng oder bauchig, verspielt oder klassisch. Es war Uromas porzellanene Kumme, in der zu Weihnachten immer die Plätzchen verwahrt wurden, die den Ausschlag für die Idee gab: Eines Tages zerschellte diese auf dem harten heimischen Küchenboden. Was übrig blieb, war der Deckel. Karina Wendt ließ das keine Ruhe, und sie schuf ein neues diesmal gläsernes Behältnis als Ersatz für das zerbrochene in Erinnerung an ihre Großmutter und deren süße Plätzchen. Lost and found. Wer kennt das nicht? Was macht man bloß mit den alten Deckeln, wenn das Gefäß zerschlagen ist? Karina Wendt sammelte. Sie ging auf Deckeljagd, keinen Flohmarkt ließ sie aus. Wurde fast süchtig. Und mit ihr die Freunde, die Familie und Liebhaber ihrer anderen Glasarbeiten. Sie überschütteten sie mit immer neuen alten Fundstücken.

Sie kreiert ihre Gefäße in apricot, smaragdgrün oder orangefarben. Die Deckel sind immer die Herausforderung und brauchen nicht selten wegen ihrer Opulenz ein richtiges Gegengewicht in Form und Farbe als neues Glasgefäß. Sie sind allesamt wunderschön und erinnern zusammengestellt an eine kleine Kollektion festlicher Turbane osmanischer Sultane. Hat man eines, möchte man gleich noch eines dazu. Und noch eines. Mehr als tausend Töpfchen hat sie bisher kreiert. Und jedes Jahr kommen mindestens hundert dazu.

Inge Ahrens

 

Information
www.karina-wendt.de

 

86 - Herbst 2021
Kultur