Perspektivwechsel

Eine Teekanne und ein Nachttopf, eine römische Goldmünze und fünfzig weitere Gegenstände sind anlässlich des 50. Jubiläums des Werkbundarchiv - Museums zusammengetragen worden, um die Betrachtung und das Verhältnis von Mensch und Ding zu untersuchen.

Könnte man ihnen zuhören, den Dingen, dem verbeulten Nachttopf, der vorher ein Stahlhelm war, einem Flachsstuhl oder dem maroden Pastikgartenstuhl, dem ein fehlendes Bein durch eine Holzprothese ersetzt wurde, was würden wir aus ihrem Leben und damit aus dem unsrigen erfahren? Das haben sich auch die Kuratoren der Ausstellung gefragt und nicht nur beredtes Material zusammengetragen, sondern auch das eine und andere Ding „zum Sprechen“ gebracht. Per Audiotechnik kann man nun den Lebenslauf des einst omnipräsenten, längst von der Sonne verblichenen Imbiss-Stuhls erfahren. Ganz genauso erzählt ein von deutschen Ingenieuren in den Dreißigern für die deutsche Wehrmacht erfundener Armee-Kanister seine Biografie. Der kubische 20-Liter-Behälter hat dramatische Stationen des II. Weltkrieges durchlebt. Seine Erzählung ähnelt einer Kriegsberichterstattung und wird zur unvermuteten Erfolgsgeschichte eines Globalplayers.

Die Dinge sind nicht allein in der Welt. Sie sind auch nicht nur einfach so da, sondern ausschließlich in ihrer Beziehung zum Menschen. Von ihnen werden sie hergestellt, zu ihnen gelangen sie für den ursprünglichen oder einen verfremdeten Zweck. Neue Bestimmungen werden von den Menschen den Dingen übertragen. Die Gebrauchs- und Abnutzungsspuren verändern Dinge. Im besten Falle werden sie charismatisch, erweckt ihr Vintagelook neue Verzückung oder werden sie gar durch den Gebrauch „geadelt“. Zumindest aber bezeugen sie Geschichte. Es geht um die Historie und Herkunft der Dinge, wie sie in jedem Museum erzählt wird. Die Ausstellung „The Story Of My Life“ erzählt in vier Kapiteln die Geschichte der Objektbiografie. Es geht aber auch um Sinn und Aktualität.

Der dänische Märchenerzähler Hans Christian Anderson ließ schon 1863 eine eitle Teekanne Erfahrungen aus ihrem allzu kurzen und gescheiterten Leben erzählen. Aus der Sicht des feinen Porzellans werden Selbstüber-
höhung, Schmerz, Enttäuschung und Demut mitgeteilt. Die Personalisierung ist in der romantischen Literatur bereits ein probates Mittel. Der russische Schriftsteller Sergej Tretjakow aber gilt mit seinem Essay „Die Biographie des Dings“ als Erfinder der Dingbiografie. Er polemisiert gegen den klassischen Heldenroman, nicht zuletzt, weil die, im herkömmlichen Roman „aufgeblähte menschliche Persönlichkeit mit der Biografie der Dinge auf ihren Platz gestellt wird“. Er fordert eine gleichwertige Mensch-Ding-Beziehung sowie neue Themen und Schreibkonzepte und eröffnet, dass eine Biografie von „Holz, Getreide, Kohle, Eisen, Flachs, Baumwolle, Papier, Lokomotive […] noch nicht geschrieben wurde“.
Die Biografie des Dings beginnt mit seinem Erdachtwerden, mit der Herstellung vollzieht sich die Geburt und mit seiner Distribution tritt das Ding ins Leben. Aber was passiert danach? Ein wichtiger Aspekt der Ausstellung ist die Kreislaufwirtschaft, das
„Cradle zu Cradle“, die Nachhaltigkeit, die in unserem Jahrhundert der maximal zu vielen Produkte, neuer Ausbeutung und Naturzerstörung ein Hauptanliegen ist. So vermag die kleine Schau Illusteres, Poetisches, Alltagweltliches mit Politischem und Ökologischen zu verbinden, und wirbt einmal mehr für die Aufmerksamkeit, die den Dingen gebührt.

Anita Wünschmann

 

92 - Frühjahr 2023
Kultur