Politiker als Feindbild

„Nicht die Politik ist das Schicksal, sondern die Wirtschaft.“ Walther Rathenau

Vor 100 Jahren wurde Walther Rathenau ermordet – nur wenige Monate nach seiner Ernennung zum Reichsaußenministers. Heute weitgehend vergessen, gehört er zu den bedeutendsten und faszinierendsten Persönlichkeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Er wusste, dass Attentatspläne von Nationalisten und Antisemiten gegen ihn existierten. Warum dieser Hass? soll er seinen Parteifreund Hellmuth von Gerlach gefragt haben: „Ausschließlich, weil Sie Jude sind und mit Erfolg für Deutschland Außenpolitik betreiben. Sie sind die lebendige Widerlegung der antisemitischen Theorie von der Schädlichkeit des Judentums für Deutschland. Darum sollen Sie getötet werden.“ Walther Rathenau verzichtete auf Personenschutz, trotz konkreter Hinweise der Polizei auf ein Attentat. Es gab bereits in völkisch-nationalistischen Blättern unverblümte Morddrohungen gegen ihn.

Am Morgen des 24. Juni 1922 wurde Walther Rathenau in Berlin-Grunewald auf der Fahrt ins Auswärtige Amt in der Königsallee von Angehörigen der rechtsextremen Organisation Consul ermordet. Damit endete seine kurze Zeit als Außenminister des deutschen Reiches, ein Amt, das seinen politischen Ambitionen entsprach und in dem er versuchen wollte, Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg durch Verhandlungen aus seiner internationalen Isolation herauszuführen und Reparationen zu mildern. Im April hatte er mit der Unterzeichnung des Rappalovertrages mit der Sowjetunion seinen ersten großen diplomatischen Erfolg. Danach verzichteten beide Seiten auf den Ersatz der Kriegskosten und Kriegsschäden.

Ein derart ausgleichendes Handeln war Walther Rathenau offenbar in die Wiege gelegt worden, aber auch „sein Festhalten an seiner doppelten Identität als Deutscher und Jude und sein Glaube an die Möglichkeit einer deutsch-jüdischen Symbiose“, wie es  Shulamit Volkov, emeritierte Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Tel Aviv, formulierte. Doch steckte in dieser Haltung auch immer ein gehöriges Maß an Ambivalenz: Die Person Walther Rathenau war so vielseitig wie faszinierend und widersprüchlich, was schon damals die Geister spaltete. Als Sohn von AEG-Gründer Emil Rathenau war er einerseits erfolgreicher Industriefürst, Präsident des größten Elektronikkonzerns Europas und Mitglied in vielen Aufsichtsräten im In- und Ausland und sogar vom Kaiser als Gesprächspartner geschätzt. Er verkehrte mit berühmten Wissenschaftlern, Künstlern und war Bankiers bekannt, stand im Mittelpunkt der feinen Berliner Gesellschaft, war verwandt mit dem berühmten Max Liebermann und am Ende visionärer Außenminister der frühen Weimarer Republik. Andererseits galt er als Christus im Frack, weil er genau diese Gesellschaft, welcher er Reichtum und Erfolg verdankte, in Aufsätzen und Schriften mit sozialliberalen und provokanten Thesen kritisierte. Derart Widersprüchliches stieß bei so manchem seiner Zeitgenossen auf wenig Verständnis. Der Erwerb des Schlosses in Bad Freienwalde verstärkte noch die ambivalente öffentliche Meinung. „Ein eitler Mensch – und ein sehr innerlicher Mensch“, schrieb beispielsweise der spitzzüngige Kritiker Alfred Kerr über den schillernden Großindustriellen. Doch gerade Bad Freienwalde war für Rathenau jener Zufluchtsort, wo er seine zweite Natur auslebte. Wo er in stiller Natur Gedanken niederschrieb, die so gar nicht zur Glamourwelt der Großbourgeosie passten. Hier ging Walther Rathenau seinen Hobbys nach und beschäftigte sich mit Philosophie, Politik, Kunst und Literatur. Oft zog er sich wochenlang auf sein Schloss zurück und war ganz Schriftsteller. In seinen wichtigsten Werken erweist er sich als scharfsinniger Analytiker seiner Zeit mit ihren enormen Möglichkeiten, aber auch großen Gefahren. In seinen sozialkritischen Texten plädiert er gar für eine Neuordnung der Wirtschaft, attackiert die Großindustrie, den eigenen Stand, der ihm sein Luxusleben ermöglicht, und ist für die Abschaffung des Erbrechts. All das reflektierte er hier, als offenbarte sich in der Einsamkeit der Natur sein zweites Ich. Aber ein Eremit wollte er auf seinem Landsitz nicht sein, legte sogar besonderen Wert auf Besuche. Zu seinen Gästen gehörten Geschäftspartner wie die Bankiers Fürstenberg, Mosler und Gutmann, der AEG-Direktor Felix Deutsch sowie Künstler und Literaten wie Carl Sternheim, Gerhart Hauptmann, der Verleger Samuel Fischer und sein späterer Biograph Harry Graf Kessler. Während allerdings beispielsweise Hauptmann zu seinen Freunden zählte, der den Schlosskauf als „Kulturtat Rathenaus“ würdigte, mokierten sich andere, wie Stefan Zweig darüber, oder sahen in Rathenau eher einen von Großmannssucht Getriebenen. Den genialen Weitblick dieses außergewöhnlichen, universal gebildeten, kritischen Geistes übersahen sie freilich darüber. „Wirtschaft ist nicht Privatsache, sondern Gemeinschaftssache, nicht Anspruch, sondern Verantwortung“: Wer so etwas vor hundert Jahren schrieb, war seiner Zeit gedanklich weit voraus.

Mit dem an die Deutschnationale Volkspartei gerichteten Satz "Der Feind steht rechts" machte Reichskanzler Joseph Wirth in seiner Trauerrede im Reichstag die hemmungslose Hetze der nationalistischen Presse unmittelbar verantwortlich für den Mord, der nicht nur gegen den Politiker Rathenau selbst, sondern vor allem gegen die Weimarer Republik gerichtet war. Über 400 000 Berliner protestierten gegen das Attentat, das im Juli zum Erlass des Republikschutzgesetzes führte.

Reinhard Wahren

 

89 - Sommer 2022
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