Vordenker, Feldforscher, Visionär

Der universell denkende Naturforscher Alexander von Humboldt ist so aktuell wie keine andere bedeutende historische Persönlichkeit. Im ausgehenden Berliner Biedermeier fast vergessen, ist sein Naturverständnis heute näher denn je.

Das Humboldt-Forum eröffnet nicht wie geplant in diesem Jahr. Eigentlich sollte die Feier im 250. Geburtsjahr von Alexander von Humboldt Auftakt von Teileröffnungen im Berliner Schloss sein. Aber nachdem der Bau nicht rechtzeitig fertig wurde, stand die Feier ganz für sich. Erst im nächsten Jahr ist eine schrittweie Eröffnung geplant.
Dem berühmten Namensgeber hätte es in jedem Fall gefreut, das Berliner Schloss nun als welt- und menschheitsumspannenden Erkundungsort zu entdecken, wo die „Einheit in der Vielfalt“ wahrhaftig wird. Mit seinem berühmten Diktum und universellen Wissen um die Natur hatte er schon Goethe so beeindruckt, dass dieser Humboldt mit den außerordentlichen Männern des 16. und 17. Jahrhunderts verglich, „die selbst Akademien waren“. Humboldts universale Naturbetrachtung und Weltbeschreibung muss für manche seiner Zeitgenossen visionär gewesen sein. Vielen aber war sie suspekt, sie brachten dem „verrückten Humboldt“ eher Unverständnis entgegen. Denn mit dem damals gängigen Naturverständnis von einer alles beherrschenden Naturkraft war die Idee von einem Naturganzen, in dem ein Austausch von belebter und unbelebter Natur stattfindet, ganz und gar unvereinbar. „Ich werde Pflanzen und Fossilien sammeln, mit vortrefflichen Instrumenten astronomische Beobachtungen machen können; ich werde die Luft chemisch zerlegen … Das alles ist aber nicht der Hauptzweck meiner Reise. Auf das Zusammenwirken der Kräfte, den Einfluss der unbelebten Schöpfung auf die belebte Tier- und Pflanzenwelt, auf die Harmonie sollen stets meine Augen gerichtet sein.“ Mit diesem ehrgeizigen Anspruch tritt er, zusammen mit dem französischen Botaniker und Naturforscher Aimé Bonpland und mit allen Vollmachten des spanischen Königs ausgestattet, 1799 seine berühmte Südamerikaexpedition an und will einen ganzen Kontinent erforschen. Vom spanischen La Coruña aus segeln sie los. Ihre wichtigsten Stationen sind Cumaná in Venezuela, Caracas, der Orinoko, Cuba, Cartagena, der Rio Magdalena, Bogotá, Quito, die Besteigung des Chimborazo, die Ruinenlandschaft des einstigen Inka-Reiches, Lima, Acapulco, Philadelphia und Washington. Im wahrsten Sinne durchstreift er Südamerika, Mexiko und Cuba, führt dabei Experimente durch, auch an sich selbst, besteigt sechs Vulkane, untersucht klimatische Einflüsse auf Vegetation und Tierwelt, vermisst Orte neu und sammelt Pflanzen. Am 3. August 1804 betreten sie in Bordeau wieder europäischen Boden. In „Ansichten der Natur“ beschreibt Humboldt nach der Reise nicht nur die Natur, auch die Menschen, deren Lebensweisen und die Bedingungen, unter denen sie leben. Und er hat Gesteinsproben, Urkunden, Gemälde sowie unzählige Pflanzenproben im Gepäck. Die übergibt er seinem Freund und Lehrer Karl Ludwig Willdenow, damals Direktor des Botanischen Gartens in Berlin. Dort werden heute im Herbarium davon über dreitausend Pflanzenarten aufbewahrt – ein Schatz, der für Genetiker, Klimatologen und Ökologen von unschätzbarem Wert ist, denn selbst dieses historische Pflanzenmaterial bringt noch Aufschluss über deren Biodiversität. Wenn Humboldt von einem „belebten Naturganzen“ ausgeht, ist er nicht weit vom heutigen Begriff des Ökosystems entfernt und damit zweifellos ein ökologischer Vordenker. Selbst umweltzerstörende Entwicklungen, wie die Abholzung von Wäldern, die Wasserentnahme aus den Flüssen, mahnte er an, rücken ihn als historische Persönlichkeit ganz nah in unser Jahrhundert.

Doch Alexander von Humboldt war nicht nur ein unermüdlicher Naturforscher und Entdecker, der in den kleinsten Details die großen Zusammenhänge erkannte, er war auch durch und durch Humanist, Kosmopolit und Freigeist, Vegetarier. Als entschiedener Gegner von Sklaverei und Ausbeutung in den Kolonien studierte er die indigenen Kulturen, erforschte den Kalender und die Schrift der Azteken und war als „preußischer Baron“ eher republikanisch gesinnt. Mit diplomatischem Geschick suchte er die Nähe auch der Mächtigen, um sie mit seinem Naturverständnis und seiner Weltsicht zu konfrontieren. „Alexander von Humboldt ist der wahre Entdecker Südamerikas! Ihm hat die Neue Welt mehr zu verdanken als allen Konquistadoren zusammen!“ Nicht nur Simón Bolivar hat ihn bewundert, in Südamerika ist sein Name bis heute präsent: Städte, Straßen, Parks, Schulen, ein Fluss in Brasilien, ein Berg in Venezuela, sogar ein Gebirge in Mexiko und der Humboldtstrom an den Küsten Chiles und Perus sind nach ihm benannt. An seinen Artikeln in Zeitschriften von Paris bis Petersburg kam damals kein Naturforscher vorbei. In mehreren Sprachen schrieb er tausende von Briefen, korrespondierte mit Forschern und Gelehrten, Staatsoberhäuptern, Königen, Philosophen und Dichtern. Darin zeigt er sich aufklärerisch, religionskritisch und weltbürgerlich. Zu seinen populären Vorlesungen in der Universität und der Singakademie strömte ganz Berlin. Und er förderte mit eigenem Geld junge Erfinder, wie Werner von Siemens. Denn in seinem Hauptwerk, dem „Kosmos“, mit dem Untertitel „Versuch einer physischen Weltbeschreibung“ drückt sich auch die grundlegend praktische Anschauung aus, die Humboldt manchmal auch zum Erfinder werden ließ.

Bereits zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn im preußischen Bergdienst, nach seinem Studium an der Bergakademie in Freiberg, erfand er ein so genanntes Respirationsgerät – eine Art Sauerstoffmaske, die er gleich selbst ausprobierte – und einen „Licht-Erhalter“ für unter Tage. Bei sauerstoffarmer Luft und schlechter Sicht konnten derartige Hilfen für die Bergleute lebensrettend sein. Auch eine wasserfeste Tinte benutzte er auf seinen Reisen. Ebenso geht die Isobarenkarte des Wetterberichts auf ihn zurück. Und er schreckte vor Experimenten am eigenen Körper nicht zurück. Um die Elektrizität zu erforschen, untersucht er auf seiner Forschungsreise Zitteraale oder testet die Wirkung von Curare und hätte dabei den Tod finden können. So war Humboldt im wahrsten Sinne immer auch Feldforscher. Von trockener Wissenschaftlichkeit hielt er wenig. Ein unabhängiger Freigeist wollte er sein. Ihm angebotene Ämter als Botschafter oder Museumsdirektor lehnte er strikt ab. In Berlin und Potsdam fühlte er sich selten wohl. „Kleinliche Moquerie und Tatelsucht“ beklagte er dort, hielt sich lieber jahrelang in Paris auf. So ließ seine Popularität im Laufe der Zeit nach und Humboldt sah sich zunehmend Anfeindungen ausgesetzt. Ein franzosenfreundlicher Kosmopolit passte nicht mehr in die heraufziehende national gestimmte Kaiserzeit. Am Ende seines Lebens stirbt er 1859 nahezu verarmt in der Oranienburger Straße 67, in einer Mietwohnung. Sein gesamtes Vermögen war aufgebraucht. Nach seinem Tod verschwand sein Name nach und nach aus dem öffentlichen Bewusstsein. Allenfalls zusammen mit seinem Bruder Wilhelm, dem Gründer der Berliner Universität, fand er mehr oder weniger als „Naturforscher“ Erwähnung. Dass er längst, nicht nur mit dem Humboldt-Forum eine Renaissance erlebt und die bislang kümmerliche Humboldt-Forschung zu leben beginnt, hätte ihn zwar gefreut, nicht aber der Zustand, in den die Welt geraten ist. Er hatte die umweltzerstörerischen Entwicklungen zu einer Zeit beschrieben, als die industrielle Revolution noch in ihren Anfängen steckte. Ihn heute allerdings nur als Umweltprophet zu sehen, würde ihm nicht gerecht. Alexander von Humboldt ganz wiederzuentdecken, verspricht nichts weniger, als in die Gedankenwelt des vielleicht letzten Universalgenies und Weltbürgers einzutauchen.

Reinhard Wahren

 

Ausstellung
Wo Wissen wächst: Alexander von Humboldt und die Wurzeln der
Wissensproduktion,
bis 29. März 2020  im Botanischen Garten Berlin,
Königin-Luise-Straße 6-8, 14195 Berlin

 

80 - Herbst 2019
Kultur