Marsch in die Mall

Das neue Leipziger Platz Quartier wird genau an der Stelle errichtet, wo bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs das berühmte Kaufhaus Wertheim stand.

Es war der Lichthof, der das Besondere war. Und das Besondere wird wieder ein Lichthof sein. Mit der überdachten Piazza zitieren die Architekten des Leipziger Platz Quartiers das Herzstück des einstigen Warenhauses Wertheim. Zwischen den Weltkriegen war es das größte in Europa, nach dem Mauerbau war es weg. Und mit ihm auch der Lichthof mit der an den Treppen postierten sechs Meter hohen Kupferstatue „Arbeit“, auch „Frau Wertheim“ von den Mitarbeitern des Kaufhauses genannt. Am Bauzaun Leipziger Platz Nr. 12 kann man sie heute wieder ansehen.

Die neue Piazza braucht Statuen nicht. Sie bietet einen freien Blick auf die Borussia-Figur, der obersten preußische Staatsgewalt, von Otto Lessing im Giebel-Relief des Bundesrates. Seit dreieinhalb Jahren wird am Leipziger Platz gebaut und gleichfalls an der Voss-, Wilhelm- und Leipziger Straße. Was hier auf einer Geschossfläche von 21 Hektar entsteht, ist mehr als nur ein Lückenschluss in der Barockform des achteckigen Platzes. Das Leipziger Platz Quartier der High Gain House Investment GmbH (HGHI) des Unternehmers Harald G. Huth ist ein Brückenschlag zwischen den vier Himmelsrichtungen. Vom Westen werden die Besucher das Quartier auf ihrem Weg in den Osten zum Gendarmenmarkt passieren, vom Norden kommen sie vom Holocaust-Mahnmal direkt in die Piazza hereinmarschiert, motiviert vom durchscheinenden Portal des ehemaligen Preußischen Herrenhauses, dass das Bundesratsgebäude einmal war. Im Frühling 2014 soll es mit dem Flanieren und Konsumieren losgehen.

Zwischen Shopping-Mall und Geschichtsmeile

„Shopping is coming home“, verkündet der Bauherr an den Bauzäunen und schlägt eine Brücke auch von der Historie in die Gegenwart. Das Leipziger Platz Quartier wird in der Hauptsache ein Einkaufszentrum mit 270 Läden auf 76 000 Quadratmeter Verkaufsfläche. „Wir erinnern in unserem Projekt an das alte Wertheim-Warenhaus“, sagt Huth. Mittendrin wird es aber auch ein Hotel geben. Drumherum und obendrauf entstehen Townhouses und Apartments, auch Büros, wie im alten Voßpalais. Das denkmalgeschützte Haus mit der roten Sandsteinfassade ist die authentische Perle in dem Projekt, 130 Jahre alt und das einzige Gebäude aus dem 19. Jahrhundert weit und breit. Derzeit wird es aufwendig saniert. Geschäfte des gehobenen Einzelhandels sollen hier einziehen. Hier befand sich einst die 420 Meter lange Fassade von Albert Speers Neuer Reichskanzlei, der Machtzentrale Hitlers, die Symbol des Nazi-Größenwahns wurde. Die Voßstraße ist wie die Wilhelmstraße eine geschichtlich brisante Gegend. Eine ständige Straßenausstellung mit dem Titel „Geschichtsmeile Wilhelmstraße“ dokumentiert hier an 30 Stationen die Geschichte der Gebäude des alten Regierungsviertels. Reisende und Flaneure ziehen an ihnen entlang von Unter den Linden kommend auf dem Weg zur Freiluftausstellung „Topografie des Terrors“. Künftig wird die Meile viele Flaneure an der Ecke Voßstraße kraft des Konsums verlieren – Denn „Shopping is coming home“. Harald G. Huth investiert dafür etwa 800 Millionen Euro. Nach Angaben von HGHI sind schon 95 Prozent der Flächen vermietet. Einziehen werden die einschlägigen Marken, die man auch andernorts kennt, zum Beispiel aus den Potsdamer Platz Arkaden. 45 Handelsketten, die heute schon im benachbarten Shopping-Center an der Alten Potsdamer Straße zu finden sind, werden ihr zweites Standbein im Leipziger Platz Quartier errichten, berichtet der Tagesspiegel im September, darunter H&M, Esprit und Zara. Der Elektronikfachmarkt Saturn entscheidet sich sogar komplett für den Leipziger Platz und damit für ein fast doppelt so großes Einkaufszentrum. Die 40 000 Quadratmeter umfassen­den Arkaden bekommen im nächsten Jahr also einen großen Bruder.

Warenhausarchitekten

Beide Shopping-Center kommen zusammen fast auf die 108 000 Quadratmeter, die der Nutzfläche ihres Ahnen, des Warenhauses Wertheim, entsprechen. Es hatte eine Schaufensterfront von 330 Meter Länge. Alfred Messel hatte es ab 1897 gebaut. Schlanke, durchlaufende Granitpfeiler strebten in der Hauptfassade des Hauses bis unter die Traufe. Sie prägten das Stadtbild am Leipziger Platz. Messel baute oft für Wertheim. Einziges Zeugnis dessen steht heute in der Rosenthaler Straße in Mitte. Dort blickt man in die Sophienstraße hinein auf die kunstvoll detaillierte, denkmalgeschützte Pfeilerfassade des Warenhauses Wertheim, das Messel dort 1903 baute. 

Das neue Leipziger Platz Quartier ist eine Schöpfung aus dem Architekturbüro nps tchoban voss, das in Zusammenarbeit mit APB Pechthold Architekten Berlin mehr als ein einzelnes Gebäude entwirft. Das Einkaufszentrum, das Hotel, die Büros und die Wohnungen fügen sich ins Format der traditionellen Berliner Blockrandbebauung ein. Betrachtet man die Piazza als Straße, entstehen zwei Blöcke mit begrünten Innenhöfen und mit Gebäudehöhen, die sich an der Berliner Traufhöhe von 22 Meter orientieren – so hoch war auch der Lichthof von „Frau Wertheim“.

„Octogon“ ohne Grenze

Es gibt am Leipziger Platz bald eine Lücke weniger, und das barocke „Octogon“ mit seinen acht Platzecken tritt wieder hervor. Eine Wunde heilt. Oder mit den Worten des Stadtplaners Dieter Hoffmann-Axthelm gesagt: Das „Widerlager“ für das „Westberliner Triumphtor“ entsteht, womit er die Hochhäuser des Potsdamer Platzes meint. An die Berliner Mauer, die den Platz überquerte, wird im Quartier nichts erinnern. Sechs Teile von ihr stehen ja auch direkt auf dem Platz, und wer mehr davon will, der findet in der Erna-Berger-Straße einen „Rund­blick­beobachtungsturm“ vom Typ BT6, zu dem ein Durchgang am Dalimuseum führt. Eine Statue gibt es dann doch noch, die für das Quartier von Bedeutung sein könnte: Auf dem Weg zur Friedrichstraße treffen die Shoppen­den am Zietenplatz auf Fürst Leopold von Dessau. Er ist nicht aus Kupfer, sondern Bronze, hält keinen Warenkorb wie „Frau Wertheim“, sondern die Hand am Säbel. Vom „Alten Dessauer“ erzählt der Historiker Siegfried Fischer-Fabian, dass der General in Kesselsdorf im Krieg für Friedrich den Großen „mit seinen Männern einen eisbedeckten Hang hinauf gegen eine aus 34 Geschützen bestehende sächsische Batterie anstürmte“. Er hat auch den Gleichschritt eingeführt. Man nehme sich also in Acht und gehorche auch den tieferliegenden Gesetzen des Ortes, marschiere in die neue Piazza ein und kaufe, kaufe, kaufe.

André Franke
 

56 - Herbst 2013
Stadt