Plötzlich war die Idee da

Die Berliner Verlegerinnen des Binooki-Verlages machen die Vielfalt türkischer Gegenwartsliteratur auch deutschen Lesern zugänglich. Damit haben sie großen Erfolg.

Am Anfang war das Klischee. Und dann kamen zwei sympathische, energische Frauen und wischten es weg. So lässt sich, sehr kurz, die Entstehungsgeschichte des Berliner Binooki-Verlages zusammenfassen. Das Klischee bestand darin, dass türkische Literatur irgendwann vor Tausendundeiner Nacht aufgehört hat, bedeutend zu sein. Und dass die moderne Türkei aus Gastarbeitern besteht. Die beiden Frauen heißen Selma Wels und Inci Bürhanyie. Sie sind Schwestern, haben türkische Eltern und sind in Pforzheim geboren und aufgewachsen. Zum Studium kamen sie nach Berlin. Vor zwei Jahren haben sie mehr oder weniger spontan einen Verlag gegründet, der erfolgreicher ist, als sie es je erwartet hätten, und der türkische Gegenwartsliteratur in deutscher Sprache veröffentlicht. Dieser Verlag heißt „Binooki“, ein Fantasiewort, das mit dem türkischen „binokl“ – Brillenzwicker – und dem englischen Wort „book“ spielt. „Wir haben den richtigen Moment erwischt. Vor fünf Jahren wäre das nicht so eingeschlagen“, sagt Inci Bürhanyie. Sie ist im Erstberuf Anwältin mit eigener Kanzlei und die ältere der beiden Schwestern. „Wir haben beide immer sehr viel und gerne gelesen“, sagt die Jüngere, die 34-jährige Selma Wels. Sie hat Betriebswirtschaft studiert und beim Film gearbeitet. Im Gegensatz zu Inci las sie früher nicht gerne türkisch. „Bei türkischen Neuerscheinungen, die mir Freunde empfahlen, habe ich immer gesagt, ich warte, bis die auf Deutsch erscheinen.“ Leider war das so gut wie nie der Fall. „Da haben wir uns schon gefragt, warum das so ist“, sagt Inci. Die beiden ergänzen einander häufig die Sätze, fallen sich aber nie ins Wort. „Wir haben uns schon als Kinder gut verstanden“, sagt Selma.

Hadern über die Berührungsängste zwischen türkischer und deutscher Gesellschaft ist nicht die Art der beiden Verlegerinnen. Als sie vor knapp drei Jahren gemeinsam über die Istanbuler Buchmesse schlenderten, waren sie begeistert von den vielen aufregenden Neuerscheinungen. „Die türkische Gesellschaft ist sehr jung“, sagt Inci Bürhanyie. „Deshalb gibt es auch sehr viele junge Autoren.“ Plötzlich war die Idee da: „Wir gründen einen Verlag und bringen zeitgenössische türkische Literatur in deutscher Übersetzung heraus.“ Wer die beiden herzlichen und energiegeladenen Frauen je getroffen hat, versteht sofort, dass die Bankberater nicht anders konnten, als ihnen einen Gründerkredit zu geben. Im Herbst 2011    erschien das erste Programm. Darin nicht nur junge Stars der türkischen Szene wie Alper Canıgüz mit seiner rasanten Groteske „Secret Agency“. Sondern, als erste Veröffentlichung, der Klassiker „Warten auf die Angst“ von Oguz Atay. „Die türkische Literaturszene ist sich ihrer Wurzeln und Traditionen sehr bewusst und schätzt die eigenen Klassiker hoch“, sagt Inci Bürhanyie.

Die Reaktion der Verlagslandschaft auf die beiden Seiteneinsteigerinnen war überwältigend positiv. Bereits ein Jahr nach der Gründung bekam der Binooki-Verlag einen Förderpreis der renommierten Kurt-Wolff-Stiftung zur Unterstützung einer vielfältigen Verlagsszene. Preise für Verlagsprogramm und innovatives Marketing folgten. Schnell wurden auch die türkischen Kollegen auf die beiden Schwestern aufmerksam und suchen den Kontakt, um ihre Titel dem deutschsprachigen Publikum nahe-zubringen. Trotz der großen türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland ist diese Literatur bei uns viel schwächer vertreten als etwa in England oder Asien. Warum? Die beiden rollen die Augen. Es hat etwas mit den Klischees zu tun.

In der Herbstvorschau 2013 ist, als Premiere, ein deutscher Titel: der Gedichtband „Istanbul Bootleg“ von Gerrit Wustmann zu finden. „Das war unser Geburtstagsgeschenk an uns selbst“, sagt Selma Wels. „Einmal im Jahr wollen wir ein Spezialprojekt verwirklichen, das eigentlich nicht in unser Programm passt.“ Den Autor, ein junger Kölner Orientalist und Lyriker, haben sie bei einer Lesung kennengelernt. „Der hatte eine sooo tolle Stimme“, schwärmt Inci. Darum wurde kurzerhand noch eine vom Autor selbst eingelesene CD produziert und dem Buch beigelegt.

Zeitgenössische Literatur mit türkischer Stimme ist so vielfältig, und das Feld in Deutschland bisher so spärlich beackert, dass Binooki sein Spektrum bereits nach zwei Jahren erweitern könnte. Etwa auf Literatur von in Deutschland schreibenden, türkischstämmigen Autoren. Aber das wollen die beiden Verlegerinnen nicht. „Wir wollen Bücher veröffentlichen, die von der Gegenwart in der Türkei erzählen“, sagt Inci Bürhanyie. Die praktischen Herausforderungen, die dabei entstehen, nimmt sie bewusst in Kauf. So ist es für deutschsprachige Leser manchmal nicht ganz einfach, sich auf Anhieb in den fremdklingenden Namen mit ihren vielen Akzenten und Sonderzeichen zurechtzufinden. „Aber das kann man ja auch als Bereicherung sehen.“ Tatsächlich gewöhnt man sich beim Lesen sofort daran.

Wie unterscheidet sich die zeitgenössische türkische Literatur von derjenigen in Deutschland? „Eigentlich gar nicht“, sagt Selma Wels. „Die Themen sind ganz ähnlich: Liebe, Beziehungen, Gesellschaft, Alltag.“ Vielleicht ist der Mut zum Gefühl etwas größer. „In der türkischen Gesellschaft lebt man stärker mit seinen Emotionen. Aber ansons-ten gibt es vor allem Gemeinsamkeiten.“ Das sei es, was viele Leser am Anfang erstaunt habe. Im Roman „Unsere große Verzweiflung“ von Barıs Bıçakçı leben etwa zwei Männer in einer WG in Ankara, eine Frau stößt dazu. „Da haben einige Leser gesagt, sie hätten gar nicht gewusst, dass eine solche Lebensform in der Türkei möglich sei“, wundert sich Selma Wels. Soviel zum Thema Vorurteile. Aber mit den literarischen Entdeckungen aus der modernen Türkei, die sie uns zugänglich machen, tragen die beiden Verlegerinnen nicht nur inhaltlich zur Horizonterweiterung bei. Wer ein Binooki-Buch in der Hand hält, hilft auch ganz praktisch bei der Aufklärung. Dafür sorgen die Aufkleber auf jedem Buch, die Selma Wels und Inci Bürhanyie drucken ließen. Sie tragen das Motto nicht nur ihres Verlages, sondern ihres Lebens – „Achtung: Klischeefreie Zone!“

Susann Sitzler

 

Information

www.binooki.de

56 - Herbst 2013