Berlin-Macher

Dass Berlin dazu verdammt ist, immerfort zu werden und niemals zu sein, wusste schon im Jahr 1910 der Publizist und Kunstkritiker Karl Scheffler. Ein oft zitierter Satz, der noch heute gilt. Umso mehr sind Menschen gefragt, die vor oder hinter den Kulissen etwas bewegen und die Stadt ein Stück voranbringen. Wir stellen sie in jeder Ausgabe vor, die Berlin-Macher. Diesmal Barrie Kosky.

Die erste Begegnung mit diesem Mann liegt schon ein wenig zurück. Rund ein Jahr ist es her. Dennoch ist sie noch genau so präsent wie die, die erst gerade jetzt stattgefunden hat. Damals, im Foyer der Komischen Oper Berlin, taucht er plötzlich wie aus dem Nichts auf, kommt auf die Gruppe zu, völlig unprätentiös, stellt sich kurz vor und erläutert „Die Zauberflöte“, seine Zauberflöte, die in seinem Haus sozusagen als Stummfilm daherkommt und gerade für Schlagzeilen sorgt. Dabei ist seine Begeisterung ansteckend. Dass da irgendjemand – gemeint sind hier einige wenige Kritiker – anderer Meinung sein könnte, kann man sich gar nicht vorstellen. Und so nimmt er die Besucher mit in seine Welt, in seine Welt des Theaters und der Oper. Gestatten: Barrie Kosky, Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin.

Seine Interpretation der Zauberflöte, Mozarts Einstiegsoper für den musikalischen Nachwuchs, eignet sich dabei besonders gut, um die theatrale Welt dieser Ausnahmeerscheinung zu verstehen. Kosky, 1967 in Melbourne als Nachfahre jüdischer Einwanderer aus Russland, Polen und Ungarn geboren, lehnt eine strenge Trennung in Musik- und Sprechtheater ab und führt die verschiedenen Bühnenelemente immer wieder in neuen, auch ungewohnten Kombinationen zusammen. So wie bei der Zauberflöte, die er vor der Leinwandkulisse eines Stummfilms inszeniert. Doch die Kraft der faszinierenden Bilder tut der Musik keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil, zumal sich nicht die Musik dem Tempo des Films, sondern der Film dem Tempo der Musik anpasst. Ein technisches Meisterwerk, das offensichtlich nicht alle Kritiker verstanden haben. Da ist das Publikum schon etwas klüger. In nur drei Tagen waren die ersten zehn Aufführungen ausverkauft. Drei weitere werden in das Programm aufgenommen. Dann geht das Stück auf Tournee.

Doch da ist Kosky schon wieder mit neuen Dingen beschäftigt. Abwechslung scheint die einzige Konstante in seinem Leben zu sein. „Ich genieße Vielfalt“ sagt er in unserem Gespräch, „Heterogenität ist das Kennzeichen des 21. Jahrhunderts“, in einem Interview mit der „Opernwelt“, der Zeitschrift, die der Komischen Oper Berlin für das Programm der ersten Spielzeit unter Koskys Regie im Oktober 2013 den Titel „Opernhaus des Jahres“ verleiht. Gekommen ist er im Herbst 2012 und hat das Intendantenamt von Andreas Homoki übernommen. Zuvor war er, der an der Universität Melbourne Klavier und Musikgeschichte studiert hat, als freier Regisseur ein gern gesehener Gast in den renommiertesten Theater- und Opernhäusern dieser Welt.

Umso mehr verwundert es, wenn Kosky sagt: „Intendant wollte ich nie werden. Aber wenn schon Intendant, dann nur an der Komischen Oper.“ Da ist die Frage nach dem Warum nicht nur erlaubt, sondern geradezu zwingend. Für seine Antwort holt der Australier etwas aus. Schon bei seiner ersten Inszenierung an der Komischen Oper Berlin im Jahr 2003, Ligetis Le Grand Macabre, habe er das Gefühl gehabt: „Hier kann ich etwas Besonderes schaffen.“ Der „Geist des Hauses“ habe ihm gut gefallen, die Spielfreude und überhaupt seien hier viele Dinge einzigartig. Als Beispiel nennt er Probezeiten, die andernorts völlig unmöglich seien. Alleine für seine Eröffnungsinszenierung aller drei vollständig erhaltenen Opern von Claudio Monteverdi – Orpheus, Odysseus und Poppea –, die dreimal an jeweils nur einem einzigen Tag als Trilogie aufgeführt wurden, hat er fünfeinhalb Monate geprobt. „Undenkbar in anderen Häusern“, konstatiert Kosky, der mit seinem Einstieg auf breiteste Resonanz gestoßen ist.

Überhaupt fällt auf, dass es nur ausgesprochen selten Fälle gibt, bei denen sich die Geister an Kosky und dessen Interpretationen scheiden. In der absoluten Mehrzahl liegen ihm Publikum und Kritiker gleichermaßen zu Füßen. Und das drückt sich auch in der Statistik aus. So liegt die Auslastung des Hauses derzeit bei durchschnittlich 86 Prozent, eine explosionsartige Steigerung um 20 Prozent in den letzten zwei Jahren. Und das Tempo, das er für die kommende Spielzeit vorlegt, ist auch nicht von schlechten Eltern. Zehn Premieren hat er sich für sein Haus vorgenommen, darunter auch Schönbergs „Moses und Aron“. Während für
Kosky damit ein 25 Jahre lang gehegter Traum in Erfüllung geht, endet für den Autor dieser Zeilen vielleicht ein Jahrzehnte andauernder Albtraum: Er fand die Oper seinerzeit so grausam, dass er in der Pause die Aufführung verließ. Zur „Moses und Aron“-Premiere in der Komischen Oper Berlin wird er einen erneuten Versuch unternehmen.

Aber nicht nur in Berlin darf man sich auf Koskys Arbeiten freuen. Auch andernorts warten seine Fans bereits ebenso sehnsüchtig. Royal Opera House in Covent Garden in London, Glyndebourne Festival, Teatro Real Madrid, Bayerische Staats-oper München, Opernhaus Zürich, Oper Frankfurt, Finnische National-oper und Los Angeles Opera stehen in seinem Inszenierungskalender, was wiederum die Frage aufwirft: Wie viele Stunden hat Koskys Tag? „Ich mag meine Arbeit“, sagt der Maestro nur, streichelt seinen Hund, der ausgerechnet auch noch Blumfeld heißt. „Blumfeld, ein älterer Junggeselle“ ist eine Erzählung von Franz Kafka über einen Mann, der den Gedanken an einen Hund als Begleiter wegen der zu erwartenden Probleme verwirft. Probleme kennt Kosky nicht. Allenfalls Herausforderungen. „Wir versuchen immer neu zu denken. Das gehört zu unserer Arbeit“, so Kosky. „Oper neu denken“ – immer, vermutlich ist das das Erfolgsrezept und des Rätsels Lösung. 

Detlef Untermann

 

58 - Frühjahr 2014