Mit dem Blick des Fensterputzers

Fensterputzen statt Klinkenputzen: Der Berliner Fotograf Lars Nickel hat sich vor fünf Jahren als professioneller Fensterputzer selbstständig gemacht. Im Bildband „Beletage“ zeigt er beeindruckende Porträts seiner Kunden.

Mit dem Putzen kam für den Berliner Fotografen Lars Nickel die Freiheit. „Am 2. November 2009 wurden bei der Handwerkskammer Berlin unter der Betriebsnummer 105995 die Berufe Gebäudereiniger und Fotograf auf meinen Namen in die Handwerkerrolle eingetragen“, schreibt er in seinem neuen Bildband. Damals war Nickel 40 Jahre alt und seit Jahren als freiberuflicher Fotograf tätig. Er hatte Einzelausstellungen im In- und Ausland bestritten und in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht.

Seither stellt er fast täglich in meist großzügigen Wohnungen seine Trittleiter auf und zieht den Profiwischer aus dem Gürtelhalfter. Dann lässt er den Gummischieber so leichthändig über die Scheibe gleiten, dass das Glas mindestens bis zum nächsten Regenguss praktisch unsichtbar erscheint. Ungefähr 100 Fensterscheiben putzt Lars Nickel durchschnittlich pro Woche, verteilt auf etwa zehn Wohnungen, „quer durch die Stadt“, von Prenzlauer Berg bis Wannsee. Dabei kommt er in ganz unterschiedliche Privatwelten: Wilmersdorfer Witwenbehausungen voller vergilbter Andenken, Friedenauer Ikea-Oasen junger Familien, Townhouses in Mitte, wo Besserverdiener ihr Dasein inszenieren, und hin und wieder hat er auch die Verglasung eines privaten Swimmingpools zu putzen. Aus diesen Einsichten wollte der Künstler etwas machen. In der Edition Braus ist soeben sein prächtiger Bildband mit dem Titel „Beletage. Ansichten eines Fensterputzers“ erschienen. Er zeigt etwas ganz Besonderes: die Kraft, die das Zuhause einem Menschen gibt.

Lars Nickel wurde 1969 in Ostberlin geboren. Seit seiner Jugend beschäftigt er sich mit künstlerischer Fotografie. Nach der Wende zog es ihn auf den Spuren seines Vorbildes Robert Frank zunächst in die USA. Nachdem er sich dort „satt fotografiert“ hatte, führte ihn sein Interesse in den Osten zurück. Im tiefen Rumänien fotografierte er die vergessene Welt der Maramures, später suchte mit seinem Vater für eine fotografische Dokumentation das Grab von dessen Vater, der im Zweiten Weltkrieg in Russland gefallen war. Dazwischen studierte Nickel bei Arno Fischer und assistierte Harald Hauswald, beides Ikonen der DDR-Fotografie. 2005 begann er, zunächst als Zubrot, um seine kleinen Kinder zu ernähren, in Privathaushalten Fenster zu putzen. Das liegt in der Familie: Nickels Vater und zwei Onkel waren Gebäudereiniger. Aber „ein Großonkel hatte auch ein Fotofachgeschäft an der Bornholmer Straße. So kommt alles zusammen“.

Im Gespräch ist Nickel ein eher zurückhaltender, grüblerischer Mensch. Seine Entschlossenheit kommt zum Zug, wenn er sein Arbeitsgerät in der Hand hat – Wischer ebenso wie Kamera. Für „Beletage“ wusste er genau, wie er zu Werk gehen will: „Ich fotografiere für dieses Projekt mit einer 30 Jahre alten Mittelformatkamera auf Rollfilm. Da ich ohne zusätzliches Licht arbeite, ist ein Stativ notwendig, das macht die Fotos so ruhig.“ Nickels Bilder sind streng durchkomponiert. Er lässt die Bewohner in Türeinfassungen, vor Tischen oder neben Kühlschränken posieren. Manchmal tragen sie ein Baby oder eine Katze im Arm, einige stehen neben ihren Kindern. Selbst wenn er den Protagonisten nur wenige Auflagen gab – statt Pantoffeln lieber Straßenschuhe tragen – ist kein Detail zufällig. Besonders oft lässt Nickel Menschen im freien Raum stehen. Damit entlockt er ihnen eine aufrechte Haltung. Manche der Abgebildeten wirken gefasst und fokussiert wie in früheren Zeiten Adelige, die sich von einem Maler porträtieren ließen und dafür die Mühe auf sich nahmen, für Stunden und Tage in einer Haltung zu verharren. Nur, dass bei Nickel keines der Shootings länger als eine Stunde dauerte. Meist fand es direkt vor oder nach dem Fensterputzen statt. Die Kunden, die er fragte, stimmten alle bereitwillig, wenn auch manchmal etwas erstaunt, dem Fotografiertwerden zu. Dabei wurden selten mehr als zehn Bilder geschossen – um Material zu sparen. Während der Produktion von „Beletage“ stellte die Firma Fuji nämlich die Produktion der verwendeten Filme ein und Nickel musste Restposten des kostbaren Materials bei Internetauktionen erwerben.

Nickel zeigt seine Kunden in ihren Privaträumen als Privatmenschen, aber er zeigt sie nicht distanzlos. Zu einer Zeit, in der ein narzisstischer Selfie-Kult eine Übersättigung an dürftigen Porträts aus eigener Hand schafft, sind diese Bilder eine Wohltat. Sie zeigen Menschen, die nicht um Publikum buhlen, sondern sich in erster Linie dem Fotografen zeigen. Sie blicken offen in die Kamera und halten dem Blick des Betrachters stand. Und sie scheinen stolz auf ihre Umgebung zu sein. Viele glänzende Holzfußböden und Flügeltüren sind zu sehen. Und manchmal auch Kuriositäten: Warum stapelt ein „selbstständiger Vermögensberater“ aus Mitte Holzscheite in das Bücherregal seiner ansonsten nüchternen Wohnung? Bei aller künstlerischen Verdichtung macht es vor allem Spaß, sich auf diesen Bildern umzuschauen und Einrichtung und Bewohner auf sich wirken zu lassen. 

Für den Fotografen Lars Nickel hat sich die Weiterentwicklung zum professionellen Fensterputzer gelohnt. Nicht nur seine wirtschaftliche Situation ist dadurch stabil und gibt ihm die Möglichkeit, seine künstlerischen Projekte kompromisslos zu verfolgen. Seitdem er in seinem Berufsleben nicht mehr vorrangig mit Bildredakteuren und Galeristen zu tun hat, überwiegen bei beruflichen Kontakten die positiven Begegnungen. „Die Leute sind nett“, heißt es in „Beletage“.
Fensterputzer ist eine gute Arbeit. „Kein Klinkenputzerjob wie Fotograf.“

Susann Sitzler

 

Information

Lars Nickel: „Beletage. Ansichten eines Fensterputzers“,
Edition Braus, 96 Seiten,
ISBN 978-3-86228-106-0,
29,95 Euro

 

60 - Herbst 2014