Berlin-Macher

Lothar de Maizière [Foto: Untermann]

Dass Berlin dazu verdammt ist, immerfort zu werden und niemals zu sein, wusste schon im Jahr 1910 der Publizist und Kunstkritiker Karl Scheffler. Ein oft zitierter Satz, der noch heute gilt. Umso mehr sind Menschen gefragt, die vor oder hinter den Kulissen etwas bewegen und die Stadt ein Stück voranbringen. Wir stellen sie in jeder Ausgabe vor, die Berlin-Macher. Diesmal Lothar de Maizière.

Es gibt Menschen, deren größtes Glück im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung es ist, in einen Bücherladen zu gehen und jedes Buch kaufen und lesen zu können, das sie möchten. Und ist eines gerade nicht da, wird es bestellt. „Dieser Zugewinn an geistiger Freiheit ist es“, sagt einer von ihnen und schwärmt: „So können meine Kinder und Enkelkinder weltoffen aufwachsen.“ Seine Name: Lothar de Maizière, der gerade seinen 75. Geburtstag gefeiert und sich vor etwas mehr als 25 Jahren wohl nicht hat träumen lassen, einmal als erster frei gewählter und gleichzeitig letzter Ministerpräsident der ehemaligen DDR einen festen Platz in der Weltgeschichte einzunehmen.

Heute sitzt de Maizière ganz bescheiden in seiner Anwaltskanzlei und macht einen sichtlich zufriedenen Eindruck. Dabei hat es den einen oder anderen Nackenschlag in seinem Leben gegeben. Geboren am 2. März 1940 in Nordhausen in Thüringen, studiert er nach dem Abitur am Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin von 1959 bis 1965 Viola an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“. Nur zehn Jahre lang kann er unbeschwert seiner Leidenschaft nachgehen und als Bratschist in mehreren Orchestern, darunter auch im Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, spielen. Doch dann ereilt ihn eine Nervenentzündung am linken Arm. „Das war eine absolute Katastrophe“, erinnert er sich nur ungern daran, wie diese Erkrankung seine musikalische Karriere langsam, aber sicher beendet. Bereits 1969 beginnt er mit Rechtswissenschaften ein Fernstudium an der Humboldt-Universität Berlin. 1975 ist es dann soweit: Er tauscht die Bratsche gegen den Anwaltstalar und wird Rechtsanwalt.

Wie tief der Schmerz damals gesessen haben muss, mag man daran ermessen, dass de Maizière „vier Jahre lang nicht mehr in ein Konzert gegangen“ ist. Doch jetzt ist er froh, dass er „noch musizieren kann“. Und selbst wenn er (heute als junger Mann) wüsste, dass ihn eben sein Schicksal ereilen würde, so würde „er doch wieder Musik studieren“. Leidenschaft, die Leiden schafft.

So pendelt de Maizière seitdem zwischen zwei Welten, der emotionalen der Musik, seiner Berufung, und der rationalen der Juristerei, seines Berufes. Vermutlich funktioniert das nur, weil er ein Feingeist mit einem ganz feinsinnigen Humor ist. „Täglich eine Blödelei, das muss sein“, lautet sein Credo, das so aber wohl nur die wenigsten von ihm kennen. Den anderen sagt er dann: „Ihr kennt mich nur von 1990. Da hatte ich auch nichts zu lachen.“

Und da ist er dann ganz plötzlich da, der Mantel der Geschichte, der sich so unvermittelt im Herbst 1989 auf seine Schultern legt.  Zwar ist de Maizière, der aus einer ausgesprochen politischen Familie kommt, seit 1956 Mitglied der Ost-CDU. Doch bis zu diesen bewegten Tagen ist er in dieser Partei „nicht einmal Kassier“ gewesen und wird doch gefragt, ob er bereit sei, die Nachfolge des damaligen Vorsitzenden Gerald Götting anzutreten, wenn dieser abgelöst werde. Auf seine Frage, wie sie denn ausgerechnet auf ihn gekommen seien, hätte die Abordnung fünf Punkte genannt: Der Kandidat sollte hinlänglich intelligent sein, erkennbar kirchennah, mit der Politik der Partei nicht verhaftet, organisatorisches Geschick besitzen und auf große Menschenmengen zugehen können. „Das Letztere bin und kann ich nicht“, habe er sofort gesagt. Doch geglaubt haben es die Fragesteller ganz offensichtlich nicht. Von November 1989 bis 1990 steht er an der Spitze der Ost-CDU.

Und obwohl „Wahlkampf auf dem Marktplatz etwas ganz Furchtbares“ für de Maizière ist, gelingt es ihm bei der ersten freien Volkskammerwahl 1990 als Kandidat der Allianz für Deutschland mit 48,1 Prozent einen überraschend hohen Wahlsieg einzufahren. Der Rest ist hinlänglich bekannt, so auch die Vorwürfe, er sei in Anspielung auf den österreichischen Komponisten und Pianisten Carl Czerny (1791–1857) unter dem Decknamen „Czerni“ Inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit gewesen. Dies hat er nicht nur immer bestritten, in seiner ihm eigenen, feinsinnigen Art bringt er ein nahezu unschlagbares Argument: „Wäre ich IM gewesen, hätte ich wenigstens dafür gesorgt, dass der Name Czerny richtig geschrieben worden wäre, nämlich mit y.“ Wer de Maizière kennt, hat daran keinen Zweifel.

Der Kurzzeit-Politiker selbst hat keinen Zweifel daran, dass es die einst vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen blühenden Landschaften im Osten des Landes mittlerweile gibt: „Wer sie nicht sieht, ist blind, blöd oder bösartig“, wird er für seine Verhältnisse schon fast grob. Aber angesichts dieser „ganz großen Aufbauleistung“ habe Ostdeutschland die modernste Infrastruktur in Europa, moderne Universitäten und Krankenhäuser, eine gestiegene Lebenserwartung und und und. Dies habe dazu geführt, dass die „Abwanderung gestoppt“ sei. Allerdings gebe es im Osten des Landes auch noch einiges zu tun. Die Arbeitslosigkeit sei nach wie vor doppelt so hoch wie im Westen. Zudem bestünden gravierende Vermögensunterschiede: „Im Osten gibt es gut verdienende Leute, im Westen reiche.“ Aber alles in allem sei besagtes Glas weder halb voll noch halb leer, sondern dreiviertel voll.

Was de Maizière derzeit viel mehr bewegt, ist der Verlust des Bürgertums, des Bildungsbürgertums und der intellektuellen Oberschicht, auch und vor allem in Berlin. „Die Stadt wird nicht regiert, sondern nur noch schlecht verwaltet“, ärgert er sich und stellt die wohl alles entscheidende Frage: „Was können wir tun, um aus Einwohnern Bürger zu machen?“ Denn Bürger betrachteten die Gesellschaft als die ihre, kümmerten sich darum und seien engagiert. So aber fühle sich niemand zuständig und vor allem verantwortlich.

Dieses Problem sieht de Maizière gegenwärtig auch in Russland, wo nach seiner Ansicht das Bürgertum regelrecht ausgerottet worden sei. „Eine Gesellschaft braucht aber Menschen, deren Grundbefindlichkeit nicht dadurch bestimmt wird, wie viele Immobilien sie besitzen und welchen Jahresumsatz sie machen, sondern davon, welche Bücher sie lesen und welche Bücher sie schreiben“, ist er überzeugt. Feingeister eben – wie de Maizière einer ist.

Detlef Untermann

 

62 - Frühjahr 2015
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