Die Stadt als Einladung

Jan Gehl ist ein Enfant terrible der Stadterneuerung. Wenn er vor Publikum auftritt, bleibt kein Platz frei. Der Architekt und Stadtplaner hat die Umgestaltung seiner Heimatstadt Kopenhagen, die inzwischen beliebteste Stadt Europas ist, maßgeblich beeinflusst. Ebenso den Umbau Moskaus und Manhattans. Sein Buch „Städte für Menschen“ ist in mehreren Sprachen erschienen.

Das Wort Einladung klingt sympathisch. Wer wollte sich nicht gern einladen lassen? Noch dazu in eine angenehme Stadt oder als Mitgestalter des urbanen Lebens. Jan Gehl berät Städte wie Shanghai, New York, Almaty, Singapur oder St. Petersburg.  Ein einfaches Bild genügt dem 78-Jährigen, um eine lebenswerte Stadt zu beschreiben: „Schauen Sie, wie viele Kinder und alte Menschen auf Straßen und Plätzen unterwegs sind.“

Die Frage „Wie wollen wir leben?“ treibt freilich nicht nur den dänischen Planer um. Aber seit 40 Jahren treibt er ein Umdenken im Städtebau voran. Dabei geht es um den Wandel der Größenverhältnisse. Städteplanung kann nicht allein aus der Vogelperspektive gelingen. Ein wichtiges Beispiel dafür sei das „Brasilia-Syndrom“. Die in den Fünfzigern spektakulär durchgeplante Millionenstadt lasse von oben effektvolle Stadtsymbolik erkennen: der Adler mit ausgebreiteten Schwingen. Nicht bedacht wurde, ob die Straßen und Plätze der Alltagsperspektive der Menschen wirklich gerecht würden. Der Maßstab der Sechziger war die Beschleunigung schlechthin, ein Neubeginn und Aufbruch mit positiv gedachtem, weitem Raum. 

Die Kritik an der freien Bebauung, an entgrenzten Wohngebieten und an von Schneisen zerfurchten Städten lief spätestens seit den Achtzigern zur Hochform auf. Damit kam auch die Einsicht: Mehr Straßen bringen nicht weniger Stau sondern mehr Autos. 

Jan Gehl nimmt die alte europäische Stadt Siena mit ihrer muschelförmigen Piazza del Campo und die Fußgängerstadt Venedig als Konstante eines faszinierenden Lebensgefühls und setzt mit seiner Kritik am städteplanerischen Konzept der Nachkriegsmoderne an. Er fordert, nicht allein verschiedene Planungsblickwinkel zu verschränken, sondern explizit vom menschlichen Maß, den Sinneseindrücken und Bewegungstempi (Wie lange braucht man, um einen Platz zu überqueren? Wie zermürbend ist die Wartezeit für Fußgänger an der Ampel?) des Menschen auszugehen, um generell das Lebensgefühl, soziale Interaktion, Kommunikation und Gesundheit zu stärken. Im Konkreten bedeutet dies: fantasievolle, öffentliche Räume und weg von der autoorientierten hin zur fußläufigen Stadt und zur „Cycle-City“, salopp gesagt hin zur Radlerstadt, wie man sie in Berlin-Mitte noch wildwüchsig und in Kopenhagen organisiert erleben kann oder an Fahrradsonntagen in New York City oder Bogotá. 

„Das menschliche Maß“ bedeutet also, die psychischen und physischen ebenso wie die soziokulturellen Bedingungen der Menschen zum wichtigsten Planungskriterium im Städtebau zu machen. Dazu gehören Raumvorstellungen und Gebäudehöhen oder schlichte Elemente wie Poller, Pfeiler, Säulen, Nischen, damit der wartende, schauende oder stehende  Bürger sich geborgen fühlen kann. Der Mensch nimmt die Stadt unbewusst wahr, bevor er etwas Gezieltes in ihr tut wie Arbeiten, Joggen oder Schaufensterbummeln, weil er das entprechende Umfeld als dafür geeignet befindet. Diese universellen Daseinsformen werden von Jan Gehl für die Um- und Neugestaltung urbaner Räume analysiert. Seine Vorschläge reichen von Verkehrsplanungen wie Geh- und Radwegsplanung bzw. Misch-
nutzungen und dem Ausbau radfreundlichen öffentlichen Verkehrs über anregend gestaltete Erdgeschosse und Fassaden bis zu Begrünung und Stadtmöbeln.  

Die Menschen müssen Lust haben, hinaus auf die Straße zu gehen, um diese zu beleben und der Stadt ein lebendiges Dasein zu geben, das allen zugutekommt und nicht zuletzt dadurch auch das Sicherheitsgefühl stärkt. So etwa lautet einer der Appelle des Visionärs an die Stadtverantwortlichen, weil zunächst einmal gebaut oder rückgebaut und angepflanzt werden muss, ehe es einladend ist, das Auto zu verlassen und zu laufen oder Rad zu fahren. 

Als Berliner möchte man sagen, es lebe die Kiezkultur! Die Kleinteiligkeit der Areale generell oder die fantasievolle Gestaltung von „Übergangszonen“ zwischen Außen- und Innenraum, zwischen öffentlichen, halböffentlichen und privaten Bereichen, ob innerhalb der City oder an reihenhausbebauten Randlagen, ist einer der Schlüssel zum Wohlfühlen. Hermetische Abgrenzung, Bereiche also, wie man sie zum Beispiel entlang riesiger Bürokomplexe erlebt, machen eine Stadt tot: „Wo interessante Übergänge fehlen und die Erdgeschosse abweisend und monoton sind, werden die Wege vom Gefühl her länger“ bzw. „Wenn der Komplex auf Augenhöhe interessant ist, ist das ganze Viertel interessant“. Man braucht nur auf die Straße zu gehen, um diesen Analysen auf dem Fuß zu folgen. 

Anita Wünschmann

 

Information

Städte für Menschen 
Autor: Jan Gehl
deutsch, 304 Seiten
ISBN 978-3-86859-356-3

 

 

 

 

63 - Sommer 2015
Stadt