Berlin-Macher

Dass Berlin dazu verdammt ist, immerfort zu werden und niemals zu sein, wusste schon im Jahr 1910 der Publizist und Kunstkritiker Karl Scheffler. Ein oft zitierter Satz, der noch heute gilt. Umso mehr sind Menschen gefragt, die vor oder hinter den Kulissen etwas bewegen und die Stadt ein Stück voranbringen. Wir stellen sie in jeder Ausgabe vor, die Berlin-Macher. Diesmal Prof. Hans Georg Näder.

Der Mann kommt viel rum. So um die 200 Nächte im Jahr verbringt er in Hotelbetten, die  rund um den Globus verteilt in New York, London, Paris oder sonst wo stehen. Und doch treibt es den Kosmopoliten förmlich nach Berlin, dorthin, wo 1919 sein Großvater Otto Bock den Grundstein für ein Unternehmen gelegt hat, das heute mit einem Umsatz von rund einer Milliarde Euro und fast 8 000 Mitarbeitern Weltmarktführer im Bereich Medizintechnik ist. An der Spitze dieses Unternehmens steht Hans Georg Näder, dessen Leben am 4. September 1961 in Duderstadt beginnt.

In der niedersächsischen Stadt hat sein Vater, der Schwiegersohn von Otto Bock, 1946 sozusagen die unternehmerische Reset-Taste gedrückt. „Aus dem Nichts baut Max Näder in Duderstadt ein neues Unternehmen auf, während Otto Bock in Königsee gegen seine Enteignung kämpft. Produktionsstandort und neuer Lebensmittelpunkt der Familie wird die Industriehalle einer ehemaligen Munitionsfabrik“, heißt es in einer Broschüre, die zum 100. Geburtstag von Max Näder dessen Verdienste um die Firma würdigt. Aus dem langen Schatten des Vaters ist der Sohn, der die Firma 1990 übernimmt, längst herausgetreten. Hans Georg Näder ist dabei den von Max Näder eingeschlagenen Weg zu einem globalen Unternehmen konsequent weiter gegangen und hat Ottobock zu einem internationalen Familienunternehmen 4.0 entwickelt.

„Erfindungen – globale Präsenz – der Mensch“, sind für den 53-jährigen Unternehmer die Fundamente für den wirtschaftlichen Erfolg. Der wiederum ermöglicht es ihm, auch in Berlin kräftig zu investieren. 250 Millionen Euro nimmt Hans Georg Näder in die Hand, um das Gelände der alten Bötzow-Brauerei an der Prenzlauer Allee zu entwickeln und, wie er es formuliert, „die alte und neue Welt zusammenzuführen“. Mit dem „Open Innovation Space“ haben Ottobock und Fab Lab Berlin dort gerade einen Ort der Begegnung und des Austausches für Kreative aus aller Welt geschaffen, die Zugang zu 3-D-Druckern, Lasercuttern, CNC-Fräsern und CAD-Software suchen, um ihre Ideen in Prototypen zu verwandeln.

„Anfangs haben sich die Krawattenträger auf der einen Seite und die Start-up-Leute in ihren kurzen Hosen auf der anderen Seite noch argwöhnisch beäugt“, erinnert sich Näder. Aber das sei längst vorbei. Er selbst habe sich da irgendwie „in between“ gefühlt, sagt der Mann, der bei der offiziellen Eröffnung unter seinem Jackett mit Poloshirt und buntem Seidenschal zu sehen ist und auch bei unserem Treffen ganz locker und leger rüberkommt. Allerdings sollte man sich nicht täuschen: Da sitzt jemand, der weiß, was er will und wie er es durchsetzen kann. „Ich bin so erzogen worden, Verantwortung zu übernehmen und zu führen“, sagt er und nennt gleich die unerlässlichen Attribute von „leadership“: Vertrauen und Verlässlichkeit. 

So kann man getrost davon ausgehen, dass der „Masterplan“ für das 24 000 Quadratmeter große Bötzow-Areal auch so umgesetzt wird, wie ihn Näder im vergangenen Jahr vorgestellt hat: Neben der Revitalisierung des Denkmals entstehen drei Neubauten, worin das Ottobock Future Lab, eine Brauerei mit Biergarten, Lebensmittelmanufakturen, Restaurants, ein Schwimmclub, ein Boutiquehotel mit Reha-Lofts und eine Galerie ihren Platz finden werden. Bis 2019, wenn Ottobock das 100-jährige Firmenjubiläum feiert, soll alles fertig sein.

Begonnen hat die Berlin-Präsenz von Ottobock 2006 mit einer Lounge im Beisheim-Center. 2009 folgt das Science Center zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor. „Wir sind gelandet wie ein Ufo“, blickt Näder zurück und spielt damit auf die futuris-
tische Gestaltung des weißen Gebäudes an. Und jetzt hofft er, dass Bötzow eine kleine Berliner Explosion auslöst, einen Entwicklungsschub. Denn Berlin ist für ihn „das deutsche Silicon Valley“ und Bötzow „das Cape Canaveral für neue Technologie“, von dem aus „Innovationsraketen“ gezündet werden. Eine der nächsten Raketen ist eine Unternehmensgründung für industriell-digitale Fabrikation von Prototypen und Kleinserien in den Bereichen Luftfahrt, Automotiv und Shipping.

Dass er einmal vom Vater die Führung des Unternehmens übernehmen würde, war für Näder „immer unausgesprochen irgendwie klar“, obwohl er wie jeder andere Junge auch mal davon geträumt habe, Lokomotivführer, Zirkusdirektor oder Zoochef zu werden. Aber seine Eltern hätten ihn „elegant“ und ohne Druck da hingeführt. Und als es seinem Vater gesundheitlich nicht gut geht, übernimmt er mit 23 Jahren Verantwortung und wechselt vor der Diplomprüfung ins elterliche Unternehmen. Bereut hat er das nie, musste er auch nicht, zumal ihm der Erfolg mehr als recht gibt.

Mit der gleichen Eleganz, wie seine Eltern ihn an Ottobock herangeführt haben, scheint Näder seine beiden Töchter auf das Familienunternehmen vorzubereiten. Jedenfalls bindet er die 18 und 24 Jahre jungen Damen hin und wieder ein, um vermutlich die Empathie und soziale Kompetenz zu fördern, die man nach seiner Ansicht braucht, um „ein guter Gesellschafter“ eines derart interkulturellen und multinationalen Unternehmens zu sein. Dabei trennt er, wie schon seine Eltern, Familie und Firma nicht. Dem Verdacht, er könne insofern ein Workaholic sein, begegnet er mit einem unmissverständlichen „Nein“ und lässt dabei auch durchblicken, dass er keinem glaube, 20 Stunden am Tag zu arbeiten. Die Frage, ob er denn ein Genussmensch sei, hält er ganz offensichtlich für ziemlich überflüssig: „Das sieht man ja!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Dass er gerne kocht, versteht sich da von selbst. Und dass er als Wunschessen „al dente Spaghetti aglio e olio“ mit einem guten Tropfen Rotwein favorisiert, unterstreicht nur den Eindruck, der sich nach einer Stunde Gespräch in einem Wohnwagen vor dem „Open Innovation Space“ auf Bötzow ohnehin verfestigt: Das ist eine richtige Type, wie es leider nicht mehr viele gibt.

Das mit dem „Type sein“ hat Näder augenscheinlich auch schon beschäftigt. Jedenfalls ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass „es in Berlin einfacher ist, Type zu sein als in München oder Hamburg“. Das führt zwangsläufig noch zu der Frage nach Heimat und Zuhause und lässt die Antwort erahnen: „Meine Heimat ist Duderstadt, da bin ich geboren und aufgewachsen. Mein Zuhause ist die Welt. Und wohl fühle ich mich in Berlin.“ Schöner kann eine Liebeserklärung kaum klingen.

Detlef Untermann

 

63 - Sommer 2015