Mehr oder Weniger! – Spiel mit dem weißen Gold

Da wäre zum Beispiel ein Brunch. Es ist Sommer. Der Tisch groß genug für zahlreiche Gäste und von Salat bis Suppe sollte es an nichts fehlen. Oder der Alltag: Der eine möchte Müsli, der andere Brote, der Dritte nur aus seiner Lieblingstasse still den Kaffee genießen. Und dann großes Kino! Die  elegante Abendtafel mit zehn runden Tischen. Häppchen, Brasse oder Braten, ein puderfarbenes Dessert usw. Aber dafür gibt es ja Eventagenturen. 

Zu Hause sollte man ruhig mal seiner Spiellust frönen, wenn es ums Tischdecken geht. Porzellan oder Steinzeug, ruhig auch beides zusammen. Edle und Alltagsdinge bilden einen schönen Kontrast. Die Gruppendynamik von Vasen und Gläsern hilft der Fantasie auf die Sprünge. „Das Auge isst mit“ oder es guckt soviel, dass es vielleicht mit einem stilvollen Bissen zufrieden ist. Nur schön muss es sein! Aber was ist schön? Material, Maß und Dekor – eine weitschweifige Frage: Also bleibt mitzuteilen, was Trendfirmen beobachtet haben: „urban jungle“ als opulente Dekore nebst Insekt mit grünen Blättern (Villeroy & Boch), oder ganze Safariszenerien
mit Großwild (Gien) in leuchtendem Orange. Man muss es mögen. Blau bis türkis kommt zart gezeichnet oder malerisch aquarelliert aufs Porzellan. Gold und Silber in feinen Linien, Strahlen (etwa von der Designerin Laura Straßer, Kahla) oder tellerrandbreite Farbblocks bedienen das Luxusbedürfnis. Die pure Form – einfach geometrisch, origamigefaltet, organisch im reinen Weiß – wer will schon darauf verzichten? Oberflächen werden aufwändig poliert, dabei das Wechselspiel von matt und glänzend ausbalanciert, ein Hauch von Grau, Rosé und Sand vermittelt stille Schönheit. Der Tisch ist also die Leinwand und das Geschirr liefert die Malmittel für temporäre Gemälde. Oder besser für Collagen, von deren Materialverschiedenheit der Reiz ausgeht. Wir essen multikulturell oder eben globalisiert und das bedeutet: Man braucht eine Vielzahl von Verschiedenem – oder wenig: eine Schüssel, ein Teller, ein Trinktöpfchen. Zunehmend sind es auch einfache Dinge, die mit äußerster Sorgfalt handgemacht sind wie die schönen Keramikgefäße von Ditte Fischer aus Kopenhagen, die den Alltag verzaubern. Manchmal genügt ein antikes Fayence-Tellerchen „Oiseau Bleu“, von der französischen Firma Gien oder ein Gustavsberg-Teller aus Schweden, um an einer sonst puristischen Tafel ins Blaue hinein zu schwärmen. Wer kennt das „wirkliche Blau“? Blau ist ja auch nicht wegzudenken. Kornblumenblau, Meeresblau, Kobaltblau. Blau schwimmen Fischschwärme über das weiße Biskuitporzellan – das härteste der Porzellane, von Stefanie Hering. Natürlich fürs feine Fischessen. Und blauäugig lugt der Krebs vom Tellerrand, denn dort hat ihn sich die Berliner Illustratorin Eleonore Gerhaher hingedacht und hingemalt. „Royal Copenhagen kann immer nur blau“, heißt es über die Geschichte von 240 Jahren „Reinterpretation of patern No. 1“ der 1770 gegründeten dänischen Manufaktur mit heute längst globalisierter Struktur: Das Gänseblümchendekor „Musselmalet“ von Royal Copenhagen fand unter der Hand der Designerin Karen Kjældgård-Larsen im Jahr 2000 ein Relaunch: Wie herangezoomt erschienen nun Punkte und Stängel. Eine jüngere Variation gibt es von Louise Campbell mit „blue elements“ (2013). Die Architektin und Designerin hat feine Blüten aus dem traditionellen Dekor herausgesammelt und über den Tellerrand hinaus filigran ausgebreitet. Die Designprofessorin Renate Schulz sagt, man braucht heute kein homogenes 24-teiliges Service im Schrank aufzubewahren, wer hat denn soviel Platz? Und ob die Erbstücke gefallen, ist oftmals auch eine berechtigte Frage. Man braucht also so wenig wie möglich, dann aber Dinge, die vielfach funktionieren. Es ist gerade wenige Jahre her, dass die Chefdesignerin der thüringischen Firma Kahla ihre Werkschau im Bauhaus-Museum hatte. Da waren zum Beispiel die Schüssel, die auch als Trinkschale geeignet ist oder Tassen mit Deckeln, die zugleich Untersetzer sind. Renate Schulz kreiert neben Unikaten vor allem für Industrieprodukte. Inzwischen ist sie seit zwei Jahren an der Kunsthochschule in Weißensee tätig und ein paar Designpreise sind hinzugekommen. Gerade in diesem Frühjahr der seit 1953 für besondere Gestaltungen ausgelobte IF-Design-Gold-Award für die sinnlichen Gebrauchseigenschaften der Serie „Magic Grab“. Stefanie Hering ist ebenfalls Wahlberlinerin und hat vor zwanzig Jahren mit weißem Porzellan angefangen, mit Rillen und Lochmustern. Ihr silbriges „h“ als Markenzeichen verheißt Noblesse und Eleganz. Hier wird in Handarbeit gefertigt. Ein puristisches Design, breite Ränder, kugelige Vertiefungen oder extreme Flachheit. Die klaren Formen bringen die edlen Scherben zum Leuchten. Funktionalität und Dolce Vita als Lebensgefühl mit einem Überschuss an Fantasie vereinen sich in der Handschrift der jüngsten Porzellanmanufaktur Deutschlands.   

Über 300 Jahre Geschichte liegen hinter dem alchemistischen Beginn im sächsisch-königlichen Auftrag, und die legendären Manufakturen von Meißen bis KPM werden, auch wenn sie zwischenzeitlich ins Schlingern geraten waren, nachgefragt. Nicht zuletzt, weil vor allem in Asien Tische ebenso groß gedeckt werden wie eine Mittelschicht sich der historischen Liebe zum weißen Gold mit ausgewählten Stücken hingeben kann und Hunderttausende zumindest zweckmäßige Kleinigkeiten brauchen. Eine alltagstaugliche Schönheit für den Massenbedarf zu schaffen, das bleibt eine populäre Frage. Die skandinavischen Moderne-Macher wie Alvar Aalto, Aino Aalto und Kaj Franck haben in den Fünfziger- und Sechzigerjahren beispielgebend ein Formenrepertoire für Porzellan und Glas erarbeitet, das zum Gründungsmythos der Firma Iittala gehört. Mit Iittala verbindet man heute nicht allein das prominente Retrodesign, die schlichten Formen, die formschönen Allzweckschalen, Teller und Trinktöpfe mit monochromen Glasuren und später die flirrenden Liniendekore von Alfredo Häberli (1999 „Origo“), sondern seit wenigen Jahren auch die plakativen Muster von Klaus Haapaniemi. Seine Kreationen sorgen für heitere visuelle Unterhaltung beim Essen. Der finnische Geschichtenerzähler lebt in London und breitet großflächig seine Fantasiegestalten über das festporöse Vitro-Porzellan, eine Erfindung aus den Vierzigern. Er lässt nicht nur Uhus aus dem Tellerfond glubschen („Magic“), sondern neuerdings auch Füchse tanzen. Für die 2015 preisgekrönte Serie „Tanssi“ (finnisch: Tanz) hat Klaus Haapaniemi aus seinem Bühnenbild für die Oper „Das schlaue Füchslein“ in Helsinki die freiheitsliebenden Protagonisten für Heikki Orvolas Design tassentauglich gemacht. Was ein bisschen nach Merchandising aussieht, kann mit anderen Iittala-Ideen bunt komponiert werden. „Enorm fest und gleichzeitig zerbrechlich“, so erklärt Renate Schulz die Faszination des Porzellans. Es klingt ja auch bis heute nach, wenn in Grimms Märchen „König Drosselbart“ die ganze Schönheit – hier war es allerdings die poröse Irdenware – zu Boden ging, nur weil ein verschmähter Prinz effektvoll Rache nahm bzw. einen moralischen Appell startete. Apropos Bruchstücke! Auch Scherben könnten eine Tafel beleben, indem sie – vielleicht als Polterabenddekoration (gibt es das noch?)  – ihre Geschichte beisteuern. Etwa die von „Oiseau Bleu“. Das ländlich anmutende Dekor mit seinen Vögeln und  Zweigen stammt aus dem 19. Jahrhundert. Die Designerin Isabelle de Borchgrave hat für Opulisten, denen Blau zu grau ist, knallbunte Schmetterlinge, Kirschen und Blüten hineingemalt.

Anita Wünschmann

 

63 - Sommer 2015