Wir sind etwas ganz besonderes

Der isländische Handballtrainer Erlingur Richardsson kommt von den Westmännerinseln. Ihnen fühlt er sich auf spezielle Weise verbunden, ein Vulkanausabruch zwang die Bewohner 1973 zur Flucht. Sein Vertrag bei den Füchsen läuft noch bis mindestens 2018.

Scheinbar regungslos verfolgt Erlingur Richardsson die Aktionen seiner Tochter Sandra. Er zieht höchstens einmal mit einem flüchtigen Lächeln beifällig die Augenbrauen hoch oder verzieht bei einem misslungenen Pass leicht den Mundwinkel. „Ich bin nicht der Trainer, der immer rumschreit“, begründet der 43-Jährige seine Zurückhaltung. Da sind seine Söhne Elmar und Andri völlig anders. Die acht- und elfjährigen Jungen jubeln und springen auf, wenn ihrer 17 Jahre alten Schwester ein Tor gelingt und die Füchse Berlin in der Handball-Bundesliga der Frauen die Oberhand behalten. Wenn nicht, schnappen sich die beiden nach der Partie trotzdem sofort einen Ball und feuern ihn mit dem Fuß abwechselnd aufs Tor, während Mutter Vigdis die Verliererin tröstet.

Umgekehrt sind die Aktionen weniger öffentlich und nur die beiden fußballernden Jungen auf dem Parkett zu sehen, wenn die von Erlingur Richardsson trainierten Profis der Füchse-Männer eine Partie beendet haben. Doch in der gewaltigen Kulisse von oft 9 000 Zuschauern auf den Rängen der Max-Schmeling-Halle fallen Sandra Erlingsdottir und ihre Mutter nicht so sehr auf wie unter der eher kargen Besucherschaft in der Frauen-Bundesliga.

Die Familie ist unzertrennlich und unternimmt, wenn es irgendwie möglich ist, das meiste gemeinsam. Das ist in ganz Island so und noch spezieller auf den dem nördlichen Land vorgelagerten Westmännerinseln. Von deren Bewohnern sagen die Leute auf dem Haupteiland, dass sie gar keine richtigen Isländer wären. Aber jene 4 200 Leute ficht das überhaupt nicht an. „Wir sind etwas ganz Besonderes“, sagt Erlingur Richardsson schelmisch. „Meine Heimat ist nicht Island, meine Heimat ist Vestmannaeyjar. Und darauf bin ich wirklich stolz.“ Diese besondere Liebe zu ihrem kleinen Fleckchen Land hat eine Bewandtnis, mit der Erlingur Richardsson in ganz spezieller Weise verbunden ist. Als in einer kalten Nacht am 23. Januar 1973 auf der Hauptinsel Heimaey – hier wohnen so gut wie alle Einwohner Vestmannaeyjars – der Vulkan Eidvell ausbrach, schien das Ende des kleinen Eilandes besiegelt. „Ich war damals erst vier, fünf Monate alt und kenne das nur aus den Erzählungen. Es muss aber schlimm gewesen sein, wie die feurige Lavamasse sich wochenlang in extrem langsamer Geschwindigkeit über die Insel rollte und ein Haus nach dem anderen unter sich begrub, zerquetschte und verbrannte“, schildert der 43-Jährige aus den Berichten der Bewohner.

Erlingurs Vater, der wie seine Vorfahren Fischer war, rettete seine Familie auf das eigene Boot, die Mutter half vielen anderen an Bord. Der kleine Erlingur und ein gleichaltriger Cousin wurden in einer Tragetasche in die Kajüte gestellt. Immer mehr Leute kamen an Deck, schwitzten im Gedränge und warfen ihre Sachen nach und nach in die Kajüte. „Als meine Mutter nach mir sah, war ich weg. Unter dem ganzen Zeug fand sie mich gerade noch rechtzeitig, völlig verschwitzt und durchnässt, aber ich atmete noch“, schildert der Isländer heute die Rettung vor den Lavamassen.

Ein Ereignis, das die Menschen von Vestmannaeyjar zusammengeschweißt hat. „Bei uns gibt es zwei Zeitrechnungen. Eine endet mit dem Vulkanausbruch, die andere beginnt danach.“ Dazwischen liegen ganze fünf Monate, denn so lange drohte die permanent nachfließende Lava den Hafen zu verschließen und die Inseln damit unbewohnbar zu machen. Erst ständige Kühlung durch eisiges Meerwasser aus gigantischen Schläuchen brachte die Feuerwalze kurz vor der Pier zum Stehen. 417 Häuser waren vernichtet und das Eiland 20 Prozent größer geworden. „Diese unglaublich ruhig verlaufene und lange währende Rettungsaktion, bei der nur ein Feuerwehrmann ums Leben kam, hat die Bewohner zusammengeschweißt und macht auch heute noch alle stolz, die auf Vestmannaeyjar geboren sind“, sagt Erlingur. Nach einem Jahr in einer Rot-Kreuz-Wohnung in Kopavogur, einer Satellitenstadt der Metropole Reykjavik, kehrte die Familie wie alle anderen Einwohner zurück auf die im Süden vorgelagerte Insel. Der Neuaufbau verlief anders als bei anderen Naturkatastrophen, weil die Lava im westlichen Teil der Heimat eine schwarze, unzerstörbare Bahn, härter als eine Betonsträhne, gezogen hatte, die heute noch als mahnendes Monument teilweise nur Zentimeter neben verschonten Häusern und Gärten zu sehen ist. Jeder Isländer will irgendwann einmal aufs Festland nach Europa, aber jeder Isländer kommt auch wieder in die Heimat zurück, ganz speziell gilt das für die Bewohner der Westmännerinseln. Und für Erlingur Richardsson und seine Familie ist jetzt Europa dran. Was nicht heißt, dass alle Gewohnheiten der Heimat vorübergehend ad acta gelegt werden. „Als Kinder haben wir jeden Tag Fisch gegessen, hier essen wir mindestens zweimal in der Woche Fisch. Leider ist der frische sehr teuer.“ Deswegen greift man schon mal auf Konserven aus der Heimat zurück. Und auf den sonntags üblichen Lammbraten ist seine Familie auch nicht mehr abonniert. „Das war bei uns Kult“, erinnert er sich. „Und dazu gab es, nur am Sonntag, für meine zwei Schwestern, meine drei Brüder und mich einen Liter Cola. Ich bin der Zweitjüngste und musste mich da ordentlich ranhalten, genug abzubekommen.“

Mit einigen Gewohnheiten der Mitteleuropäer kommt vor allem seine Frau Vigdis mittlerweile gut zurecht. Da es bei gebürtigen Isländern keine Nachnamen gibt und man sich nur mit dem Vornamen anredet, kann seine Vigdis Sigurdbogadottir – dem Vornamen wird der Name des Vaters, in dem Fall Sigurdboga, plus „son“ (für Sohn) oder „dottir“ (für Tochter) angehängt – auch nicht so heißen wie ihr Mann. Trotzdem reagiert die 44-Jährige mittlerweile, wenn sie als Frau Richardsson angesprochen wird. „Man richtet sich ein, obwohl es in Island leichter ist. Wenn ich mich irgendwo vorstelle, dann sage ich: Ich heiße Erlingur und komme von Vestmannaeyjar. 

Dann weiß jeder Bescheid.“ Irgendwann wird sich die Familie auch wieder so vorstellen, doch derweil lebt sie in Berlin den Traum eines jeden isländischen Sportlers. „Weil man bei uns vom Sport nicht sein Leben finanzieren kann, träumt jeder davon, das einmal in Europa zu verwirklichen. Und ich kann das jetzt machen“, sagt der Handballtrainer glücklich. Sowohl als Spieler als auch während seiner Trainerarbeit bei den   besten Vereinen Islands musste Erlingur Richardsson einer zweiten Arbeit nachgehen, um die Familie zu ernähren. Zuerst versuchte er sich als Fischer auf dem Boot des Schwiegervaters, hatte aber von Beginn an mit Seekrankheit zu kämpfen. „Meine Frau ist eindeutig die bessere Fischerin.“ So wurde abends trainiert, tagsüber hielt der studierte Sportwissenschaftler Vorlesungen an der Universität. Das war nichts Außergewöhnliches, weil die Aktiven aller anderen Sportarten das auch taten. Erst mit seinem Wechsel vom damaligen isländischen Handball-Meister HK Kopavogur zum österreichischen Spitzenverein Westwien konnte er sich als Profitrainer bezeichnen.

In dieser Zeit haben seine Kinder auch so gut Deutsch gelernt, dass Erlingur meint, man könne sie für Einheimische halten. Das ist in Berlin allerdings schwer vorstellbar. Als in der Schule der Jungs eine Lehrerin aus Bayern auftauchte und die anderen Kinder vor schwere Prüfungen bei der Verständigung stellte, freuten sich Elmar und Andri: „Endlich mal eine Frau, die richtig Deutsch kann.“ Der österreichische Akzent der drei Kinder ist unüberhörbar und spielt nur bei Sandra keine Rolle. Die 17-Jährige macht ihren gymnasialen Abschluss per Internet an einer isländischen Schule.

Für Erlingur und seine Familie war es die größte Verblüffung, dass der Sportunterricht an den Schulen in Österreich und Deutschland nur eine untergeordnete Rolle spielt. „Das ist bei uns mit das wichtigste Schulfach. Die Lehrer müssen eine Hochschulausbildung als Sportlehrer haben“, sagt Erlingur. Mit fünf Fußballfeldern – eines davon überdacht und mit Kunstrasen – drei Handballhallen, einem Golfplatz und einer Schwimmhalle, in die alle Kinder bis 12 Jahre ständig freien Eintritt haben, setzt Vestmannaeyjar Maßstäbe. „Wir sind nur 4 200 Einwohner, spielen aber bei den Männern und Frauen sowohl im Handball als auch im Fußball in der ersten Liga.“

Weil der deutsche Sportunterricht den Kindern längst nicht ausreicht, toben sich Elmar und Andri mit Vorliebe an den Basketballkörben oder Tischtennisplatten auf den Freiplätzen nahe der elterlichen Wohnung im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg aus, spielen dazu Handball bei den Jung-Füchsen und Fußball bei Empor Berlin. Und Sandra ist als jüngste Spielerin mit Training und Punktspielen des Handball-Bundesligisten Füchse Berlin ausgelastet. 

Der Vertrag von Erlingur läuft noch bis mindestens 2018. „Es ist spannend, in der Bundesliga zu arbeiten“, sagt er. „Die Hallen sind riesig, es kommen unheimlich viele Zuschauer, das Niveau ist insgesamt das beste in der ganzen Welt“, schwört er auf die hiesige Handball-Meisterschaft. Dass die Isländer als Lehrer hier besonders begehrt sind, führt er aber nicht auf den speziellen Stil der Insulaner zurück. „Das würde ich anders sehen. In der Ausbildung sind andere Länder, beispielsweise Kroatien, bestimmt besser“, überlegt er. „Aber wir Isländer sind es gewohnt, in kleinen Vereinen mit wenig Geld und meistens winzigem Kader zu arbeiten. Da musst du immer wieder Lösungen finden und dafür viel improvisieren. Ich glaube, das ist es, was uns bei der Arbeit auf dem Festland zugute kommt.“

Bei den Bewohnern der Westmännerinseln kommen  dazu noch deren Zusammengehörigkeitsgefühl und der sprichwörtliche Kampfgeist. „Zu uns ist keine Mannschaft gern gekommen. Die haben immer gesagt, wir spielen wie die Gladiatoren, weil wir nie aufgegeben haben“, schildert der ehemalige Kreisläufer, der als Jugendlicher auch ein ausgezeichneter Fußballer war, die Spielweise auf seinem Heimat-Eiland. Derzeit steht der Verein auf Platz 3 in Island, und der einstige Spieler und Trainer des Ex-Pokalsiegers und ehemaligen Meisters wird das noch einige Zeit aus der Ferne verfolgen müssen. „Es sei denn, ich muss dann auch mal an die Karriere meiner Frau denken“. Vigdis ist hoch qualifiziert, derzeit mangelt es ihr nur an den Sprachkenntnissen. Dafür geht sie mehrmals die Woche auf eine Sprachschule, während ihr Mann sein Deutsch durch die vielen Fachsimpeleien mit seinem Sportlichen Leiter Volker Zerbe vervollkommnet.

Hans-Christian Moritz

 

65 - Winter 2016
Sport