Tollkühne Helden

Die ganze Welt kennt Tempelhof. Doch die Anfänge der Motorluftfahrt in Berlin fanden nicht etwa auf dem Flugplatz Tempelhof, sondern in Johannisthal statt. Genau hundert Jahre ist es her, seit sich dort erstmals mutige Piloten in die Höhe schwangen.

Der Landschaftspark Johannisthal ist heute eine Oase der Erholung im Südosten Berlins. Weit schweift der Blick über die Naturanlage ganz in der Nähe des Wissenschafts- und Wirtschaftsstandorts Adlershof; und wohl nur die wenigsten der Fußgänger und Skater, die auf dem Rundweg unterwegs sind, wissen um die spektakuläre Vergangenheit des Parks als Wiege der deutschen Motorluftfahrt.

Am 26. September 1909 war es, als in Johannisthal erstmals Flugzeuge abhoben – sechs Jahre, nachdem den Brüdern Wright der erste Flug mit einem Motorflugzeug geglückt war. Fliegen war damals eine höchst abenteuerliche Sache, ein Projekt von technischen Tüftlern und mutigen Pionieren, die bei jedem Versuch ihr Leben aufs Spiel setzten. Die Skepsis in der Öffentlichkeit war groß, wie der Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch berichtet: Ein Geheimer Regierungsrat Dietrich, immerhin Professor an der Technischen Hochschule Berlin, war demnach sogar überzeugt, dass „diese Apparate“ – damit meinte er Flugzeuge – „sich niemals zu sicheren Verkehrsmitteln ausarbeiten werden, dass es sich immer nur (...) um eine Art von Sport handelt, welcher mehr Menschenleben vernichtet hat als jede sonst bekannte Art von Sport“.
Zu den Persönlichkeiten, welche früh die Bedeutung des Flugzeugs erkannten, zählten dagegen der Bauunternehmer Arthur Müller und der Major Georg von Tschudi. Sie initiierten den Bau des ersten deutschen Motorflugplatzes und wählten dafür ein rund 300 Hektar großes Gelände zwischen dem Teltowkanal und der S-Bahn-Trasse nach Grünau aus. Innerhalb weniger Wochen entstand ein Flugplatz mit einem 800 Meter langen Rollfeld. Ein vier Meter hoher Bretterzaun versperrte Passanten den Blick auf das Geschehen – aber nicht etwa, weil man unter sich bleiben wollte, sondern weil die Interessierten gefälligst Eintritt bezahlen sollten.
Denn von Anfang an war der Flugplatz Johannisthal als Spektakel für die Massen angelegt. Schon die erste Flugwoche Ende September 1909 zog die Berliner in Scharen an den Stadtrand. Nur die Polizei war nicht begeistert: Als der Franzose Hubert Latham nach einem kurzen Überlandflug in Johannisthal landete, verpasste sie ihm einen Strafzettel wegen groben Unfugs.

Immer wieder sorgte der neue Flugplatz in jenen Jahren für Schlagzeilen. So sicherte sich Hans Grade am 30. Oktober 1909 ein Preisgeld von 40.000 Mark, indem er als erster Pilot mit einer deutschen Maschine eine sogenannte liegende Acht flog. Ein halbes Jahr später startete Alfred Frey in Johannisthal zum ersten Rundflug über Berlin, bei dem er in 300 Metern Höhe die Siegessäule umkreiste. Riesige Begeisterung rief auch der Franzose Adolphe Pégoud hervor, als er im Oktober 1913 einen Kunstflug mit Loopings und Sturzflügen vorführte. So spektakulär war das alles, dass an manchen Wochenenden Hunderttausende von Menschen nach Johannisthal pilgerten. Dort fanden sie eine ausgebaute touristische Infrastruktur vor: „Der riesige, waldumgrenzte Flugplatz“, schrieb ein Berliner Stadtführer im Jahr 1912, „ist mit großen Tribünen versehen, von denen aus das Flugschauspiel prachtvoll zu beobachten ist.“

Das Risiko, das die frühen Piloten mit ihren technisch noch unausgereiften Maschinen eingingen, war immens. Zahlreiche oft tödliche Unfälle ereigneten sich – und die Crashs dürften nicht der unwichtigste Grund für den Publikumserfolg gewesen sein. „Es scheint bei Flugplatzkatastrophen eine gewisse Anarchie unter den Zuschauern auszubrechen“, berichtete der Pilot Gerhard Sedlmayr, nachdem er einen Absturz überlebt hatte, und beklagte, dass „uns armen Fliegern gestohlen wird, was nicht niet- und nagelfest ist“.

Doch auch wirtschaftlich entwickelte sich Johannisthal zu einer festen Größe. 1912 siedelte sich die neu gegründete Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) in der Nähe des Flugplatzes an, und zahlreiche Flugzeugwerke, darunter die Albatros- und die Rumplerwerke, errichteten rund um den Flugplatz ihre Produktionshallen. Einen weiteren Schub brachte der Erste Weltkrieg. Denn längst hatte die Armee die militärische Bedeutung des Flugzeugs erkannt und förderte die technische Entwicklung nach Kräften. Umso einschneidendere Folgen hatte die Niederlage Deutschlands: Da der Versailler Vertrag die militärische Nutzung von Flugzeugen untersagte, mussten die Unternehmen nach Alternativen sinnen. Eine davon bestand darin, den Passagierverkehr aufzunehmen: Am 6. Februar 1919 startete in Johannisthal die erste Passagiermaschine nach Weimar, wo damals die Nationalversammlung tagte.

Als Verkehrsflugplatz allerdings konnte sich Johannisthal nicht durchsetzen. 1923 beschlossen nämlich die Berliner Politiker, den Berliner Flugverkehr in Tempelhof zu konzentrieren. Dort entstand dann ab 1936 jenes riesige Flughafengebäude, für das jetzt, nach dem Ende des Flugbetriebs in Tempelhof, eine neue Nutzung gesucht wird.
Trotzdem bekam Johannisthal noch einmal eine große Bedeutung für die Weiterentwicklung der Luftfahrt. In den dreißiger und vierziger Jahren forcierten die Nationalsozialisten hier technische Versuche, wovon noch immer der Trudelwindkanal und andere technische Denkmale zeugen. Nach dem Zweiten Weltkrieg dann setzten sich neue Nutzungen durch: Adlershof-Johannisthal wurde zum wichtigsten Standort der Akademie der Wissenschaften der DDR, und nach der Wende etablierte sich am Standort ein Wissenschaftscluster mit Instituten der Humboldt-Universität, Forschungseinrichtungen und technologieorientierten Unternehmen. Die Erinnerung an die spektakulären Anfänge ist trotzdem nicht verloren gegangen: Das ganze Jahr über feiert die Wista-Management GmbH als Betreiberin des heutigen Wissenschaftsparks unter dem Titel „100 Jahre Innovation“ das Flug-Jubiläum von Johannisthal.

Emil Schweizer

38 - Frühjahr 2009