Die Ästhetik der Brüche

Die Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher kommt aus der Schweiz. Mit eidgenössischer Zurückhaltung und helvetischer Hartnäckigkeit trägt die eigenwillige Baslerin nach und nach zur Veränderung der Stadt bei.

Als die Basler Architektin Regula Lüscher das Angebot bekam, als Senatsbaudirektorin in der deutschen Hauptstadt zu wirken, musste sie zuerst überlegen: „Kann ich mir überhaupt vorstellen, in Berlin zu leben?“ In der deutschen Hauptstadt weht der Wind rauher als in Zürich und Wien, wo sie zuvor gearbeitet hatte. Die Position der obersten Stadtplanerin ist in Berlin seit jeher eine exponierte und hoch politische. Dazu hat auch Lüschers Vorgänger Hans Stimmann mit Nachdruck und Hang zu deutlichen Worten beigetragen. Regula Lüscher ist ein ganz anderer Mensch. „In erster Linie bin ich Architekturfachfrau, in zweiter Linie Politikerin.“ Auch steht sie als Schweizerin für eine eher zurückhaltende Art der Kommunikation. Das hat ihr vor allem im ersten Jahr ihrer Amtszeit kritische Kommentare in der Presse eingetragen. Erschüttert hat es sie nicht. „Wenn Kritik kommt, höre ich sie mir erst einmal an. Auch wenn sie inhaltlich vielleicht nicht richtig ist, überlege ich, wo das Problem liegen könnte. Dann reagiere ich entsprechend.“
Geboren wurde Regula Lüscher 1961 in Allschwil bei Basel. An der renommierten Eidgenössisch-Technischen Hochschule ETH in Zürich studierte sie Architektur. In den neunziger Jahren betrieb sie mit ihrem damaligen Ehemann fast zehn Jahre ein eigenes Architekturbüro in Zürich, bevor sie ins Amt für Städtebau der Stadt Zürich wechselte. Ab 2001 war sie dort als Stellvertretende Direktorin unter anderem für die erfolgreiche und weit über die Schweizer Grenzen hinaus beachtete Umgestaltung des ehemaligen Industriequartiers Zürich-West in einen Szene- und Kreativenstadtteil verantwortlich.
Berlin hat Regula Lüscher in den achtziger Jahren als Studentin kennengelernt. „Schon damals hat mich die Stadt enorm fasziniert. Berlin hat für jede Epoche der Architekturgeschichte etwas zu bieten. Und natürlich haben mir diese Brüche zugesagt, diese Brandmauerästhetik.“ Regula Lüscher selbst verbindet in ihrem Auftreten gerne Brüche und versteht es, Widersprüche zu einem stimmigen Ganzen zu verbinden. Zum strengen, maßgeschneiderten Tweedkostüm trägt sie eine hellblaue Pünktchenbluse, die flachen Halbschuhe ergänzt sie mit leuchtend rotem Lippenstift. Sie ist freundlich, aufmerksam – und immer etwas distanziert.

In Berlin hat sie vieles gelernt, sagt die Schweizerin. Bei Bedarf tritt sie nun forscher auf als früher. Und sie hat sich an den preußischen Pragmatismus gewöhnt. „Alles, was ich in der Schweiz an Mitarbeiterführung und anderen Managementinstrumenten gelernt hatte, konnte ich hier vergessen. Hier heißt es einfach: machen und irgendwie schauen, dass es funktioniert.“ Die Berliner selbst in ihrer Direktheit und ihrem Interesse an der Stadt sind ihr ans Herz gewachsen. Im Erdgeschoss des Dienstgebäudes am Köllnischen Park, wo die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung untergebracht ist, steht ein riesiges Modell der Stadt, das für Besucher offen und häufig von interessierten Gruppen umringt ist. „Wenn ich hier unten unterwegs bin und die Leute mich erkennen, kommen sie oft auf mich zu und sprechen mich auf bestimmte Dinge an, die ihnen an Berlin nicht gefallen.“ Regula Lüscher lacht ihr breites, spitzbübisches Lachen. „Natürlich kann ich ihnen meistens nicht helfen. Aber ich finde es gut, dass die Leute geradeaus sagen, was sie bewegt.“
Erst im direkten Kontakt zur Bevölkerung hat sie auch verstehen gelernt, wie emotional die Verbindung der Berliner zu ihrer Stadt ist. „Als Schweizerin werde ich nie in der Situation sein, dass ich persönlich das Gefühl habe, wir haben durch die Geschichte so unglaublich viel an Substanz verloren und so viel Zerstörung erlebt. Weil wir in der Schweiz so wenig Zerstörung hatten, konnte ich Geschichte immer am Original und authentisch erleben.“ So war Wiederaufbau für sie auch als Architektin nie ein Thema. Die Diskussion etwa um den Wiederaufbau des Stadtschlosses habe sie am Anfang deshalb „sehr moralisch“ beurteilt. Vor Ort habe sie nun verstanden, „wie sehr Geschichte und Identität mit der materiellen Präsenz von Bildern, von Gebäuden, von Substanz zu tun haben“. Geschichtsbezug könne man nicht nur theoretisch aus Büchern und mit Fotos herstellen. „Geschichte muss man anfassen können.“ Die Diskussion um das Humboldt-Forum interessiert sie aber auch unter architektonischen Gesichtspunkten: „Wie kriegt man einen Neubau und eine historisch rekonstruierte Schlossfassade zu einem Ganzen zusammen?“ Dabei hat die Städteplanerin immer auch das Gesamtbild im Blick: „Ich möchte helfen, Berlin im Sinn einer wilden Schönheit weiterzuentwickeln.“

Darum war Regula Lüschers Zögern auch nur kurz, als sie die Stelle angetragen bekam. „Ich habe ein großes Feuer für diese Stadt. Hier hat man eine unglaubliche Lebensqualität.“ Und noch etwas hat die 47-Jährige gereizt: „Ich wollte gerne noch einmal in einer anderen Stadt einen Alltag erleben.“ Zwar ist dieser Alltag in ihrer knappen Freizeit etwas einsamer, als sie es sich gewünscht hätte. Ihr Lebenspartner ist aus beruflichen Gründen in Zürich geblieben. Aber das hindert die eigenwillige Schweizerin nicht daran, ihr Leben und ihre Arbeit in Berlin in vollen Zügen zu genießen und noch immer neue Ecken zu entdecken. Typisch berlinische Kulturorte wie das Radialsystem liebt sie dabei genauso wie das gutbürgerliche Bayerische Viertel, in dem sie wohnt. Manchmal hat sie sogar Zeit, joggen zu gehen oder Yoga zu machen. Regula Lüscher hat die Herausforderung Berlin mit vollem Herzen angenommen. Und auch ein gelegentlich etwas rauherer Wind bringt die leidenschaftliche Seglerin nicht von ihrem Kurs ab.

Susann Sitzler
 

38 - Frühjahr 2009