Retter vor dem Absturz

Der Ungar Pal Dardai war als Profi Herthas Rekordspieler. Heute führt er die Fußballer des Vereins als Trainer in der Spitze der Bundesliga. Wenn der Trainer der Fußball-Nationalmannschaft im eigenen Land Urlaub macht, trifft er ständig auf Fans, muss Autogramme geben und für Fotos posieren, am Strand organisiert er gar  für die ihn umringenden Jungs ein kleines Turnier und gibt wertvolle Tipps. Joachim Löw an der Ostsee? Schwer vorstellbar. Nein, bei dieser Szenerie handelt sich um Pal Dardai, der mit seinen drei Söhnen im vergangenen Sommer am heimatlichen Balaton Fußball spielte.

Den Job als ungarischer Nationaltrainer musste der Fußballer schweren Herzens aufgeben, weil er im Februar 2015 als Coach der Profis von Hertha BSC inthronisiert und ins kalte Bundesliga-Wasser geworfen wurde. Sein Vorjänger Jos Luhukay, drei Jahre zuvor vom damaligen Aufsteiger FC Augsburg weggelockt, hatte seinen Vorschusslorbeer aufgebraucht und den Berliner Verein wieder einmal in die Abstiegszone der Erstklassigkeit gelenkt. Daraufhin schickten Club-Vorstand und Manager Michael Preetz den vom Heilsbringer zum Unglücksraben Gewandelten heim nach Holland und stellten den bisherigen Nachwuchstrainer Pal Dardai ein. Im Frühjahr 1996 schoss der Rheinländer als Stürmer des TV Wattenscheid in den Schlussminuten der Zweitliga-Begegnung am Berliner Tor vorbei, und durch das 0:0 im letzten Saisonspiel stiegen die Gastgeber seinerzeit nicht in die Bedeutungslosigkeit der Amateurklassen ab. Preetz wechselte als Profi an die Spree und erklomm nach dem Karriereende auf dem Feld in seiner Wahlheimat die Sprossen der Vereinsleiter bis auf seinen heutigen Macht-Posten.

Den Vertrauensvorschuss als Neutrainer, damals noch ohne Lizenz, hat Pal Dardai längst zurückgegeben. Den Schein für die amtliche Bestätigung holte er in der ungarischen Heimat nach und gab – kurz vor der erfolgreichen Qualifikation zur Europameis-terschaft in diesem Sommer – die Leitung der Nationalmannschaft in die Hände seines Freundes und einstigen Berliner Mitstreiters Bernd Storck. „Es war abgesprochen, dass ich die EM nicht als Auswahltrainer gemacht hätte“, erklärt der 40-Jährige, der mit seinem Geburtsland fest verwurzelt ist, obwohl er die Hälfte seines Lebens im Berliner Stadtteil Spandau verbrachte.

Als Pálci Dárdai, den alle Welt Pal nennt, am 1. Januar 1997 vom Budapester Traditionsverein Vasas zu Hertha BSC wechselte, war die große Karriere des Fußballers und Trainers nicht abzusehen. Inzwischen ist er mit seiner Frau Monika, einer ehemaligen Handballerin, zwischen Spree und Havel heimisch geworden. Die Söhne Pal Junior (17), Marton (14) und Bence (10) sind hoffnungsvolle Talente in den Jugendmannschaften des Vereins und Berlin ist ihre Heimstadt. „Ich habe Hertha viel zu verdanken“, sagt der Familienvater, der auch mit der nicht ganz in dieser Art geplanten Karriere glücklich ist. „Mein Traum war es, zehn Jahre bei Hertha als Trainer zu arbeiten und danach die Nationalmannschaft zu übernehmen. Das hat nicht ganz geklappt. Es kam umgekehrt. Auch gut“, sinniert Dardai. Eine Vereins-Ikone ist der Ungar ohnehin, denn keiner absolvierte mehr Bundesligaspiele für Hertha. 286 Mal stand der Mittelfeld-Akteur unter neun verschiedenen Trainern im Aufgebot der 1. oder 2. Bundesliga, seit er am 3. März 1997 mit den Berlinern das Zweitliga-Match gegen den VfL Wolfsburg mit 1:0 gewann.

In dieser Zeit hat Dardai alle Höhen aber auch Tiefen miterlebt, sportlich wie privat. Ganz Fußball-Berlin war geschockt, als Dardais fünf Jahre jüngerer Bruder Balasz im Juli 2002 während eines Testspiels in der Heimat mit einem Gegenspieler zusammenprallte, die Zunge verschluckte und noch auf dem Feld starb. Mit einem Vereins-Verantwortlichen reiste der Hertha-Profi sofort aus dem österreichischen Trainingslager nach Ungarn zur Familie.

Das Fußballtalent wurde ihm bereits in die Wiege gelegt. „Mein Vater ist mein größtes Vorbild“. Pal senior spielte ein Leben lang für den MFC Pécs, der Verein, bei dem er die meisten Einsätze aller Spieler hat und bei dem die Karriere seines Sohnes begann. „Bei uns dreht sich das ganze Leben um Fußball“, sagt Dardei senior, der Anfang März auf der Tribüne gemeinsam mit weiteren Familienmitgliedern über das wichtige 2:0 in der Bundesliga gegen den FC Schalke jubelte. Der Traditionsverein ist Mitbewerber um den Start in der Champions League der nächsten Saison gewesen und konnte damit auf Dis-tanz gehalten werden. Der Triumph, den der Trainer als eine der besten Saisonleistungen seiner Mannschaft bezeichnete, wurde mit Wein aus eigenem Anbau gefeiert. Sein Vater bewirtschaftetete bereits während seiner aktiven Zeit den Weinberg in Pécs und im Keller lagern stets um die 500 Liter. Pal Dardai selbst tritt in der Heimat auf Festen als „Weinritter“ auf.  Die ungarische Mentalität des neuen Trainers, der als Spieler einst sogar dem mächtigen FC Bayern München zugunsten von Hertha absagte, bekommt dem oft gebeutelten Verein gut. So bewahrte Dardai den hauptstädtischen Fußball nicht nur vor einem erneuten Absturz aus der Beletage Bundesliga, sondern erklomm mit der neu zusammengestellten Mannschaft sogar die Spitzengruppe. Nach dem verpassten Sieg beim 2:2 gegen Tabellenschlusslicht Hannover 96 Anfang April wollte Dardai die gegenwärtige Tabellensituation nicht überbewerten: „Ihr habt eine zu hohe Erwartungshaltung geschürt. Die Champions League belastet uns nicht, das ist nicht die Realität von Hertha BSC“, schimpfte der Ungar bei der anschließenden Pressekonferenz. „Egal, was noch passiert: Wir haben viel erreicht in dieser Saison.“ Trotz der 0:2 Niederlage beim Heimspiel gegen Bayern und  des 1:2 gegen Bayer Leverkusen spielt Hertha in der kommenden Saison erstmals seit 2009 wieder im Europapokal. Wenn Berlin auch seine langjährige Wahlheimat ist und er als einer der ganz wenigen Bundesligatrainer so viel Vertrauen genießt, einen unbefristeten Vertrag zu besitzen, bleibt Ungarn das Zuhause von Pal Dardai. Und bei dieser Bodenständigkeit können sich die Kinder in Ungarn sicher auf ein neues Turnier freuen, wenn der Hertha-Trainer mit seiner Familie im Sommer wieder am Balaton aufkreuzt.

 Hans-Christian Moritz

 

66 - Frühjahr 2016
Sport