Sein Name ist eng mit den Zeitläuften der Kunstgeschichte besonders vor dem Ersten Weltkrieg verbunden und er lebte die europäische Idee wie kein anderer: Harry Graf Kessler.
Die Moderne genussvoll und exzessiv zu erleben, sie zu reflektieren und auch noch umfänglich darüber zu schreiben, das war nur einem vergönnt. Seine Tagebücher, jetzt vollständig mit dem ersten Band, der auf Mallorca entstand, dokumentieren auf 15 000 Seiten eine Zeit, die unserer heutigen nicht unähnlich ist, geprägt von Werteverlust, Unsicherheit, Angst, aber auch von gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen. Der Beginn des 20. Jahrhunderts und der Erste Weltkrieg stellten alles infrage, was im 19. Jahrhundert, im Fin de Siècle, noch Bestand hatte, und Harry Graf Kessler, der „Flaneur durch die Moderne“ ist als hoch gebildeter, kunstbesessener und nicht zuletzt vermögender Lebemann für uns heute der ideale Chronist jener Epoche: „Das Besondere heute, dass keine andre Zeit eine solche Fülle des Neuen zu bewältigen hatte.“ Kessler selbst hat diese Umbruchzeit in seinem exzessiven Gesellschaftsleben so neugierig wie lustvoll erlebt. Dabei ging es ihm immer um die Kunst, ohne dass er selbst ein Künstler war. So hat er das kulturelle Leben, um 1900 vor allem vom Jugendstil beeinflusst, nicht nur genussvoll begleitet, sondern als Kunstvermittler, Sammler, Förderer zeitgenössischer Künstler und als Museumsleiter und Verleger wesentlich mitgeprägt.
Uns beeindruckt Harry Graf Kessler aber heute vor allem auch als Freigeist, als Protagonist, der das europäische Deutschland vor 1914 repräsentierte. In Paris 1868 als Sohn eines deutschen Bankiers und einer irischen Adligen geboren, dreisprachig aufgewachsen, war er geradezu prädestiniert für ein Leben zwischen den Sprachen, Kulturen und Welten. Künstlerisch vielseitig, nahezu fetischistisch veranlagt und hoch ambitioniert, wurde die künstlerische Moderne mit ihren kulturellen Umbrüchen für Kessler das ideale Betätigungsfeld. In Paris entdeckte er den Impressionismus für sich, war ständiger Besucher der großen Pariser Kunsthandlungen, begegnete zeitgenössischen Künstlern in ihren Ateliers, reiste kreuz und quer durch Europa, lernte den Jugendstilkünstler Henry van de Velde kennen, den er später nach Weimar holte, der dort Leiter der Kunstgewerbeschule wurde, Keimzelle des späteren Bauhauses, entdeckte und inspirierte Künstler wie den Bildhauer Aristide Maillol, und gab Kunst in Auftrag. Aber er scheiterte auch am eigenen Anspruch, die deutsche Kultur von Weimar aus erneuern zu wollen.
In seinen Tagebüchern nennt er rund 12 000 Personen, denen er überall begegnet ist, berühmten und heute vergessenen. Darunter maßgebliche Vertreter der Künstler- und Geisteselite jener Zeit: Max Liebermann, Georg Grosz, August Rodin, Georg Kolbe, Edvard Munch, Max Klinger, Ludwig von Hofmann, Max Reinhardt, Hugo von Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke, Albert Einstein, Walther Rathenau, die Brüder Wieland und Helmut Herzfelde, Erwin Piscator, Richard Strauss, Gustav Stresemann, Friedrich Nietzsche – und Wilhelm II., der Kesslers Familie zwar geadelt und ihr den preußischen Grafentitel verliehen hatte, später aber Kesslers kommunikative und integrative Fähigkeiten und Talente nicht zu nutzen wusste. Und dies, obwohl Kessler nach Jurastudium und Militärdienst 1894 einer frühen Karriere im diplomatischen Dienst nicht abgeneigt war. Stattdessen hatten ihn seine Ambitionen geradewegs in die Welt der Kunst geführt, begleitet von ständigen, ausgiebigen Bildungsreisen im In- und Ausland. Nach dem Tod seines Vaters mit einem ansehnlichen Erbe ausgestattet, organisierte er Kunstausstellungen, gründete den Deutschen Künstlerbund, wurde Kunstmäzen, Museumsleiter und Verleger in Weimar.
Seine über sechs Jahrzehnte reichenden Tagebucheintragungen geben auch Aufschluss über den Dandy Harry Graf Kessler, der in den Berliner Salons und Gesellschaften verkehrte, selbst ins Nobelhotel Adlon einlud, dort Künstler, Politiker, Regisseure, Schauspieler und Tänzer traf, mit ihnen debattierte, Gleichgesinnte zusammenführte, Aufträge vermittelte und seine homoerotischen Bedürfnisse befriedigte. Es war dieses Terrain im Umkreis des Brandenburger Tores, nahe dem Tiergarten, mit Wilhelm- und Friedrichstraße, Leipziger und Potsdamer Platz, wo er seit 1898 in der Köthener Straße wohnte, wo die Berliner Belle Époque besonders glänzte, das für den Flaneur und Lebemann Kessler wie geschaffen schien und den Mythos Harry Graf Kessler bis heute am Leben erhält.
Doch Kessler, der sich durch und durch als Ästhet empfand und der Kunst Charakter formende Kraft zubilligte, konnte und wollte sich zuzeiten auch nicht dem Zeitgeist verschließen. So verfiel der Kosmopolit Kessler, ebenso wie viele seiner Zeitgenossen, in jene Kriegseuphorie vor 1914, die eine „Erneuerung des Menschentums“ durch Krieg propagierte. Den Großmachtfantasien konnte auch er sich nicht entziehen. Als Offizier und in diplomatischer Mission nahm er durchaus engagiert am Ersten Weltkrieg teil, der ihn allerdings endgültig zum Pazifisten machte. So setzte er sich in den 1920er-Jahren für den Völkerbund ein, arbeitete gemeinsam mit Albert Einstein für die Deutsche Friedensbewegung und interessierte sich gar für den Bolschewismus und Sowjetrussland. Was Wunder, wenn er, der Pazifist und Freigeist, 1933 emigrierte. Von seiner Geburtsstadt Paris siedelte er schließlich nach Mallorca über.
Kurz vor seinem Tod, als die Nazis bereits seine Wohnungen in Berlin und Weimar, die einst von Henry van de Velde eingerichtet worden waren, plünderten, hatte er noch eine Vision: „ …das schwerste Problem nach dem Sturz der Nazis ist der moralische Wiederaufbau der deutschen Jugend.“ Diese Zeit erlebte er nicht mehr. Im Alter von 69 Jahren starb Harry Graf Kessler mittellos in einem Krankenhaus in Lyon. Aus Anlass der jetzt vollständigen Edition seiner Tagebücher würdigt die im August im Max Liebermann Haus zu Ende gehend Ausstellung erstmalig diese außergewöhnliche Persönlichkeit und regt an, Kesslers einzigartiges Gedanken- und Erfahrungsuniversum aus heutiger Sicht zu erkunden.
Reinhard Wahren
Information
Harry Graf Kessler
Flaneur durch die Moderne
Herausgegeben von der Stiftung Brandenburger Tor
Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH Berlin, 2016
ISBN 978-3-89479-940-3