Zeichen und Bilder

Als die Neue Nationalgalerie 1999 das lebensgroße Gemälde „Potsdamer Platz“ von Ernst Ludwig Kirchner für 18 Millionen Mark erworben hatte, war das eine Sensation. Das bedeutendste Großstadtbild des deutschen Expressionismus kehrte nach Berlin zurück und erinnerte zugleich an Glanz und Untergang eines mythischen Ortes. In der zwei Jahre später  eingerichteten Ausstellung „Der Potsdamer Platz. Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang Preußens“ stand es im Mittelpunkt. Mit dieser Neuerwerbung im Bestand kann die Nationalgalerie seitdem das Werk eines der wichtigsten Vertreter des Expressionismus so eindringlich und vielfältig dokumentieren, wie es kaum sonst einem Museum in Deutschland möglich ist.

So werden mit der aktuellen Ausstellung  im Hamburger Bahnhof sämtliche Werke der Sammlung erstmals geschlossen gezeigt, mit dem Anspruch, dem künstlerischen Selbstverständnis des Malers etwas näherzukommen. Dies wird bereits im Titel offenbar: Der Begriff der „Hieroglyphe“ ist für Kirchner eine Art Schlüsselmetapher. So beschrieb er unter dem Pseudonym Louis de Marsalle das wesentliche Element seiner Zeichensprache. Dabei verkörpern die Hieroglyphen Menschen, Gegenständliches und Natur in extrem reduzierter Form, vermitteln zugleich aber auch seine eigenen visuellen und atmosphärischen Empfindungen. So übersetzt Kirchner die Wirklichkeit in eine Bildsprache der „fertigen Hieroglyphen“ als „ein System aus offenen Zeichen“. Das zeigt sich besonders an den „Berliner Straßenszenen“ und am eindrucksvollsten am „Potsdamer Platz“ von 1914. Der Platz scheint aus den Fugen geraten, die Ebenen sind verschoben, zwei Prostituierte im Vordergrund – Kirchner nennt sie Kokotten und versteht darunter eine Art „Zeitfrauen“ –, die im nächtlichen Halbdunkel am ehesten das Ausgeliefertsein in der Großstadt deutlich machen, mit einer auf die Spitze getriebenen Gefährdung der eigenen         Existenz: „Wie die Kokotten, die ich malte, ist man jetzt selbst. Hingewischt, beim nächsten Male weg …“ Von diesem Lebensgefühl ist Kirchner ganz eingenommen, während er eine Ecke des damals verkehrsreichsten Platzes in einem gegenüberliegenden Café skizziert. So markiert das Bild den Höhepunkt seines legendären „Berliner Stils“ und seines künstlerischen Schaffens.

Die insgesamt 17 Werke der Sammlung reichen vom „Sitzenden Akt“ der Dresdner Brücke-Zeit bis zu „Max Liebermann in seinem Atelier“ in seinem Spätwerk. Die Darstellung des Menschen in der Bewegung reizte Kirchner dabei in besonderem Maße, wie beispielsweise bei den „Badenden am Strand“, entstanden 1913 auf der Insel Fehmarn. Dorthin flüchtet er, wenn die Großstadt den hochsensiblen Künstler zu erdrücken droht. Allerdings währte seine Berliner Schaffenszeit nur wenige Jahre. Im Juli 1915 meldet sich Kirchner zum Militärdienst nach Halle, kurze Zeit später folgt sein seelischer Zusammenbruch. „… Der Krieg und seine im Militärdienst ausbrechende schwere Krankheit brachen diese Arbeit in der vollsten Entwicklung jäh ab und verschlugen den Künstler zu seiner Heilung nach der Schweiz“, reflektiert er später in seinem Davoser Tagebuch. 1918 übersiedelt er endgültig nach Frauenkirch bei Davos und richtet sich in den Bauernhäusern In den Lärchen, ab 1923 im Haus Auf den Wilboden, ein. Darin gestaltet er seine Wohn- und Arbeitsräume genauso individuell, wie er es bereits in Berlin getan hatte, schmückt Wände nach eigenen Entwürfen, schnitzt Möbel und Skulpturen, entwirft Bildteppiche und fotografiert seine bäuerliche Lebenswelt. In Frauenkirch ist es wiederum auch die Bewegung des Körpers, die Kirchner  fasziniert, inspiriert von der Tänzerin Nina Hard. So richtet die Ausstellung den Fokus nicht nur auf seinen unverwechselbaren Malstil, sondern folgt erfreulicherweise auch markanten und wichtigen Lebensspuren Kirchners. Wie der in New York lebende Künstler Rudolf Stingel, dessen Gemälde nach fotografischen Vorlagen von Kirchner für eine zeitgenössische Sichtweise stehen. Dessen übergroßes Bild der Stafelalp – in der Ausstellung als düsteres Bergmassiv gezeigt – soll das Verhältnis von Malerei und Wirklichkeit grundsätzlich hinterfragen. So nebulös wie Stingels Version ist Kirchners Zeichensprache indes nicht. Sie treibt die Abstraktion der Wirklichkeit in genialischer Weise auf die Spitze und verleiht ihr so jene Ausdruckskraft, die Kirchners Kunst so einmalig macht.

Reinhard Wahren

 

Information

Ernst Ludwig Kirchner: Hieroglyphen
Bis 26. Februar 2017 im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, 
Invalidenstraße 50–51,10557 Berlin

 

68 - Winter 2016
Kultur