Berlin-Macher

Dass Berlin dazu verdammt ist, immerfort zu werden und niemals zu sein, wusste schon im Jahr 1910 der Publizist und Kunstkritiker Karl Scheffler. Ein oft zitierter Satz, der noch heute gilt. Umso mehr sind Menschen gefragt, die vor oder hinter den Kulissen etwas bewegen und die Stadt ein Stück voranbringen. Wir stellen sie in jeder Ausgabe vor, die Berlin-Macher. Diesmal Tim Raue.

„If you can’t stand the heat, get out of the kitchen“, hat der amerikanische Präsident Harry S. Truman einmal gesagt und dabei ganz sicher nicht ans Kochen gedacht. Und doch passt kaum ein anderer Spruch besser zur Philosophie von Deutschlands derzeit bestem Sternekoch. Allerdings klingt das bei Tim Raue etwas anders: „Um Köche zu verstehen, muss man wissen, dass die Küche ein Kriegsschauplatz ist.“

Wenn dem tatsächlich so ist, dann war Raues nicht gerade beneidenswerte Jugend eine schmerzhafte wie nützliche Vorbereitung auf diesen Kampfeinsatz. Wer detailliert nachlesen will, wie es dem kleinen Tim in seinen Kindertagen ergangen ist, kann dies in dessen Buch „Ich weiß, was Hunger ist“ tun. Darin hat der 1974 geborene Berliner eindringlich wie eindrucksvoll seinen Weg „von der Straßengang in die Sterneküche“ beschrieben.

Das liest sich dann so: „Ich habe unter meinem Vater gelitten und früh gelernt, was Hass bedeutet. Menschliche Kälte und Demütigung waren meine Gutenacht-Geschichten, das Kind in mir stumpfte ab, ich flüchtete mich in meine eigene Welt. Und irgendwann tat ich es meinem Vater gleich. Doch wer Hass sät, erntet ihn auch. Dass das auch für mich galt, habe ich damals fast zu spät begriffen. Seit jenem Tag vor fünfzehn Jahren, als mir in einem Gangfight fast der Kopf eingeschlagen wurde, versuche ich, das Leben und die Herausforderungen mit einem Lächeln zu nehmen. In den letzten Jahren ist mir die Küche eine neue Heimat geworden.“

Ob Raue seinen erfolgreichen Weg dorthin ohne seine Großeltern väterlicherseits hätte gehen können, ist eher fraglich. Welchen hohen Stellenwert Großmutter und Großvater in seinem Leben haben, wird deutlich, wenn sich der Enkel liebevoll erinnert: „Meine Großeltern taten alles für mich, was nicht heißt, dass sie mir alles durchgehen ließen. Aber wenn ich Mist baute, wurde ich nicht angebrüllt. Stattdessen nahmen sie sich Zeit für mich und erklärten mir in aller Ruhe, was ich falsch gemacht hatte. Das Motto meiner Großmutter war: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Die beiden waren es, die mir neben einem Gefühl der Geborgenheit auch Tugenden zeigten, die mir noch heute in meiner Küche extrem wichtig sind: Ordnung, Disziplin, Sauberkeit, Geradlinigkeit. Also ziemlich preußische Sachen.“

Geradlinig ist denn auch Raues Küchenkarriere: Nach seiner Ausbildung zum Koch hat er erste Erfahrungen im Restaurant Quadriga im Hotel Brandenburger Hof, im Restaurant Bamberger Reiter und im Restaurant Schloss Glienicke gesammelt. 1997 wurde er im Restaurant Rosenbaum zum ersten Mal Küchenchef. 1998 übernahm er in gleicher Position die Berliner Kaiserstuben und wurde vom renommierten Gourmet-Magazin „Der Feinschmecker“ zum Aufsteiger des Jahres gewählt. Nur ein Jahr später wechselte er gemeinsam mit seiner Geschäftspartnerin Marie-Anne als Küchenchef und geschäftsführender Direktor in das e.t.a. Hoffmann im Hotel Riehmers Hofgarten. Dort wurde er unter anderem zum Berliner Meisterkoch gewählt. 2003 wurde er zum Executive Chef und Global Culinary Advisor im Swissôtel Berlin ernannt, in dem er die kulinarischen Geschicke des Restaurants 44 leitete. 2005 wurde er vom Gault Millau zum „Aufsteiger des Jahres“ und sein Restaurant zu einem der „80 hottest tables around the world“ vom Condé Nast Traveller gewählt. Vorläufiger Höhepunkt war jedoch die Verleihung des ersten Michelin-Sterns im Jahr 2007 sowie die Anerkennung mit 18 Punkten im Gault Millau und die Wahl zum „Koch des Jahres“. Von 2008 bis 2010 war Tim Raue als Kulinarischer Direktor und Corporate Executive Chef bei der Adlon Holding GmbH tätig und erkochte sich nur fünf Monate nach der Eröffnung des Restaurants Ma Tim Raue einen Michelin-Stern und 18 Punkte im Gault Millau. Im November 2009 wurde Tim Raue als potenzieller Anwärter für einen zweiten Michelin-Stern hervorgehoben. Seit Juli 2010 ist Tim Raue nun gemeinsam mit Geschäftspartnerin Marie-Anne selbstständig. Das Restaurant Tim Raue konnte die Auszeichnungen des Michelin nur drei Monate nach der Eröffnung im September halten. Der Gault Millau bewertete das Restaurant im November 2011 erstmals mit 19 Punkten. Ein Jahr später wurde das Restaurant Tim Raue mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet, die er bis heute verteidigen konnte. Und sein letzter großer Erfolg: 2016 kochte er sich mit seinem Restaurant in der Liste der 50 besten Restaurants auf Platz 34.

„Ich bin darauf trainiert, Grenzen zu überschreiten. Früher habe ich dagegen rebelliert, wenn mir jemand Grenzen setzen wollte, heute suche ich sie, um sie zu sprengen“, sagt Raue über sich. Die Küchengrenze hat er längst überschritten und ist zum Unternehmer und Manager geworden, der sich jetzt so aufstellt, „dass es Restaurants gibt, die funktionieren, ohne dass ich am Herd stehe“. Neben seinem eigenen Berliner Restaurant, in dem er noch vier Tage in der Woche selbst in der Küche kocht, ist er engagiert und involviert im Sra Bua by Tim Raue im Hotel Adlon Kempinski, im STUDIO tim raue im Olympiastadion, im La Soupe Populaire timraue auf Bötzow, das dieses Jahr nach umfangreichen Baumaßnahmen wieder eröffnet, in den drei Brasserien Colette in Berlin, München und Konstanz, im Hanami – by Tim Raue auf der TUI Mein Schiff 5 und im Dragonfly in Dubai. In Hongkong soll sich dieses Jahr noch etwas tun, genauso wie auf Netflix, wo er als erster deutscher Koch eine Folge „Chef’s Table“ bestreitet.

Aber wie weit er in der Welt auch herumkommen mag, Tim Raue ist und bleibt ein Berliner Junge, selbst wenn es „den Jungen aus Kreuzberg, der ausbrechen wollte wie ein gefangenes Raubtier“, nicht mehr gibt. Ein brodelnder Vulkan bleibt er aber allemal, der seinen Gästen eines garantiert: „Meine Aromatik wird nie als harmloser kleiner Gaumenschmeichler daherkommen, sondern immer Vollgas in die Fresse treten.“ So hält er es grundsätzlich und vor allem in seinem Restaurant in der Rudi-Dutschke-Straße 26, das „Berlin repräsentieren“ und „auch eine Liebeserklärung an diese Stadt und ihre Menschen“ sein soll. Und dort darf man getrost davon ausgehen, dass der im Sternzeichen Widder geborene Kämpfer den nächsten Stern längst im Visier hat. Den Weg dorthin beschreibt er so: „Drei Sterne zu erreichen, das ist ein noch längerer Weg. Wenn man zwei Sterne hat und sehr kontinuierlich arbeitet, dann rechnet man mit einem Zeitraum von vier bis fünf Jahren. Die Zahl der Köche, die das wirklich schaffen, ist gering. Man muss in gewisser Weise auserwählt dafür sein, und ich weiß nicht, ob ich das bin.“ Nach seiner Rechnung werden wir es spätestens dieses Jahr wissen.

 Detlef Untermann

 

69 - Winter 2017