Respekt zeigen, zuhören, versorgen

Zehntausend Menschen in Berlin sind obdachlos. In der Herbst- und Winterzeit machen ihnen ihre schwierigen Lebensumstände besonders zu schaffen. Einsamkeit, Alkoholsucht und Krankheiten aller Art beherrschen den Alltag auf der Straße. Rettung vor dem totalen Zusammenbruch finden sie in sozialen Einrichtungen wie dem Gesundheitszentrum der Obdachlosenärztin Jenny De la Torre in der Pflugstraße in Berlin-Mitte, das sich allein durch Spendengelder und freiwillige Arbeit tragen kann.

Mit schnellen Schritten führt Jenny De la Torre den Besucher durch die hellen Räume und Flure des Backsteinbaus in der Pflugstraße: Gleich im Erdgeschoss eine kleine Frisierstube, nebenan ein Bad mit Dusche, eine Zahnarztpraxis. „Wir haben jetzt fast alles, was man braucht“, sagt die Berliner Ärztin mit einem zu­friedenen Lächeln. Es gibt eine Psychologin, ­einen Anwalt, eine Augenärztin und neuerdings auch eine Zahnärztin. An vier Wochentagen bietet eine Sozialarbeiterin Beratung an. Jacken, Hosen, Pullover in den Regalen der geräumigen Kleiderkammer sind penibel nach Größe und Jahreszeit sortiert. Am Boden stehen Kisten mit Schuhen, Unterwäsche und Strümpfe liegen auf einem Stapel. In der Suppenküche im ersten Stock wird an diesem Tag Eintopf serviert, dazu gemischter Salat, zum Nachtisch gibt es Kuchenstücke. „Die meisten essen etwas, trinken Kaffee und versuchen, ein bisschen zu entspannen.“ Jenny De la Torre weiß, dass obdachlose Menschen immer unter Stress stehen. „Ein paar Minuten am Tag müssen sie Ruhe haben“, betont sie und zeigt noch auf ein Bücherregal an einer Wand: „Wenn jemand lesen möchte, hier ist unsere Bibliothek. Manchmal bringen uns Leute aus der Nachbarschaft Bücher vorbei.“ Eine kleine Gruppe spielt Karten, ein Mann ist am Tisch in der Ecke eingeschlafen, ein anderer macht sich fertig zum Aufbruch; langsam zieht er sich seine Jacke an, sortiert Taschen und Plastiktüten. Es geht wieder auf die Straße.

Im Behandlungszimmer im Erdgeschoss wird ein Obdachloser mit blau angelaufener Gesichtshälfte behandelt. Ihn können die Ärztinnen auf keinen Fall auf die Straße zu­rück­schicken. Sein Zustand sei so schlecht, dass er in ein Krankenhaus müsse, sagt Jenny De la Torre. Der Patient ­gehört zu den ca. 80 Prozent ohne Krankenversicherung. Hier im Gesund­heitszentrum kann man ihm schnell und unbürokratisch helfen. Möglich ist dies in der Hauptsache mit Hilfe der De la Torre-Stiftung, die 2002 ge­gründet wurde, ehrenamtlicher Arbeit und Spendengeldern. Die Medi­zinerin ist dankbar für jede Unter­stützung, die sie kriegen kann. Beispielsweise durch Wohl­tätigkeitsorganisationen und Kirchengemeinden oder regel­mäßige Geldspenden des Berliner Energiedienstleisters GASAG. „Wir sind sehr glücklich über so zuverlässige Einnahmen.“ Die Sparda Bank hat im vorigen Jahr für ein Jahr die Stelle der Sozialarbeiterin finanziert. Aber auch die kleinen Beträge weiß sie zu schätzen. Besondere Hochachtung hat sie für einen älteren Herrn, der von seiner kleinen Rente jeden Monat zehn Euro beisteuert, sagt sie. „Es ist großartig, wenn jeder nach seinen Möglichkeiten etwas gibt, um den Ärmsten zu helfen.“ Ihnen fühlt sich die aus Peru stammende zierliche Frau seit Beginn ihrer medizinischen Laufbahn verpflichtet. Nach ihrer Fach­arztausbildung als Kinderchirurgin, erfolgreicher Promotion und Arbeit an verschiedenen Kliniken fängt sie 1994 an, Obdachlose am Berliner Ostbahnhof zu behandeln, und wird als bundesweit erste Obdachlosenärztin bekannt. Für ihr Engagement wurde sie schon mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und den Medienpreis „Goldene Henne“.

Nach grundlegender Sanierung des alten Backsteinbaus an der Pflugstraße, den der Bezirk Mitte zunächst mietfrei zur Verfügung stellte, konnte sie schließlich im Jahr 2006 das ­Gesundheitszentrum für Menschen von der Straße eröffnen. Seit diesem Herbst kann die Ärztin zudem ruhiger in die Zukunft blicken. Denn ihre Stiftung hat das Gebäude von Spendengeldern für 375. 000 Euro erworben. Es ist vereinbart, dass der Kaufpreis per Ratenzahlung erfolgen kann. Gern würde sie ihr Angebot noch weiter ausbauen. Der nächste Schritt könnte eine Verlängerung der Öffnungszeiten bis 18 Uhr sein, sagt sie. „Aber dazu brauchen wir mehr Personal.“

Bis zu 30 Patienten kommen täglich allein in die Sprechstunde, die meisten mit Parasiten, Haut- und Lungen­erkrankungen. Hinzu kommen Folgeerkrankungen durch Alkohol- und ­Drogensucht. „Sie kommen zu mir, weil sie Hilfe wünschen. Das ist schon mal positiv. Ich höre mir immer erst ihre Geschichte an, und dann be­handele ich sie. Jeder Mensch ist es wert, dass man sich alle Mühe der Welt gibt.“

Ina Hegenberger

 

 

Informationen

Im September 2006 hat das Gesundheitszentrum für Obdachlose in der Pflugstraße in Berlin- Mitte eröffnet. Die Ärztin Jenny De la Torre bietet dort Obdach­losen Zugriff auf eine Gesundheitsversorgung. Außerdem gibt es im Haus psychologische, rechtliche und soziale Beratung sowie eine Suppen­küche und eine Kleiderkammer.

www.delatorre-stiftung.de

 

37 - Winter 2008
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