Alle sind Touristen

Tourismus bleibt ein riesiger Wachstumsmarkt in Berlin. Dies führe aber auch zu Wachstumsschmerzen und Wachstumsgrenzen, sagt Ilse Helbrecht. Die Professorin für Kultur- und Sozialgeografie an der Humboldt-Universität hat mit ihrem Team ein neues Tourismuskonzept für Berlin mit erarbeitet. Wir trafen sie in ihrem Büro in Berlin-Adlershof.

Das Geografische Institut der Humboldt-Universität hat an einem neuen Tourismus-Konzept mitgearbeitet. Wie kam es dazu?

Eine Kooperation mit einer wissenschaftlichen Einrichtung war vom Land Berlin ausdrücklich gewünscht. Das Tourismuskonzept 2018+ wurde in Zusammenarbeit mit der dwif-Consulting und der Humboldt-Universität entwickelt. Der Hintergrund war, dass einmal wirklich andere Perspektiven eingenommen werden und grundlegend über das ganze Thema nachgedacht wird. So ist ein achtzigseitiges Strategiepapier entstanden.

Was macht den Tourismus in Berlin derzeit aus?

Der Tourismus boomt. Berlin ist nicht nur eine wachsende Stadt durch den Zuzug von ca. 40 000 Menschen jährlich, die in der Mehrzahl aus dem Ausland kommen, sondern eben auch die drittgrößte Tourismusmetropole Europas nach London und Paris. Die Insolvenz von Air Berlin hat zwar zu einer gewissen Delle in den Zahlen beigetragen, aber Tourismus bleibt ein riesiger Wachstumsmarkt in Berlin. Dieses Wachstum führt aber eben derzeit auch zu Wachstumsschmerzen und Wachstumsgrenzen. Deshalb braucht es eine wirkliche Perspektivveränderung und daraus folgend eine angepasste Steuerung des Tourismus.

Landläufig versteht man unter Touristen die angereisten Gäste, im Unterschied zu den Einheimischen. Sie definieren den Begriff des Tourismus neu. Können Sie uns das erklären?

Früher hat man in Berlin als Touristinnen und Touristen nur die Gäste betrachtet, die von außerhalb kommen und hier übernachten. Sie und ich als Bewohnerinnen, wir waren nicht gemeint. Neu ist jetzt, davon auszugehen, dass auch die Einheimischen zum touristischen Geschehen in der Stadt beitragen, zum sogenannten Binnentourismus. Wir haben in unseren eigenen empirischen Studien festgestellt, dass zum Beispiel im Wrangel-Kiez oder der Simon-Dach-Straße nicht nur auswärtige Besucher anzutreffen sind. Ein großer Teil des Publikums, bis zu 50 Prozent dieser „Partytouristen“ sind Menschen, die in Berlin wohnen. Die Belastung, die von vielen Anwohnern beklagt wird, kommt also nicht nur von den klassischen Touristen. Man kann das nicht mehr so strikt trennen. Daran gekoppelt muss unbedingt für den Tourismus ein Monitoring aufgebaut werden. Wir kennen oft nur die pauschalen Über­nachtungszahlen, aber nicht wirklich das Verhalten der Menschen.

Es klingt erst einmal seltsam, dass wir alle letztlich Touristen sein sollen.

Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Stadtbewohnerinnen und -bewohner zunehmend das gleiche Freizeitverhalten praktizieren wie Besucher, die nur temporär in der Stadt sind. Die Soziologen sprechen vom sogenannten tourist gaze, wonach wir also mit einem bestimmten Touristenblick zunehmend auch unser Zuhause betrachten. Wir wollen in unserer Stadt möglichst viel von dem haben, was wir im Urlaub gerne auch tun: Strandbars besuchen, flanieren etc.

Welche Orte sind besonders gefragt?

Nehmen Sie den Bezirk Köpenick mit seiner wunderbaren Wasserlandschaft, da hat sich in den letzten Jahren im Wassertourismus so viel getan, von Solarbooten, Flößen, Hausbooten etc. An dieser Zunahme haben die Einwohner einen sehr großen Anteil. Oder in Wilmersdorf der Preußenpark, der am Wochenende zur Thaiwiese wird. Da gehen eben auch sehr viele Berliner hin, um sich ein wenig wie in Thailand zu fühlen und das leckere Essen zu probieren. Das ist eine touristische Praxis. Oder die Admiralbrücke in Kreuzberg. Erst werden viele Dinge und Orte quasi als Geheimtipps von den Stadtbewohnern entdeckt, und dann irgendwann landen Sie im „Lonely Planet“ und die Touristen kommen. Wir haben also diese Gegenbewegung. Die Einheimischen verhalten sich wie Touristen und die zugereisten Touristen wollen etwas vom speziellen Berliner Lebensgefühl und Alltag mitbekommen.

So können also diese neuen Touristen auch mehr stören in den klassischen Wohngebieten. Wie kann man gegensteuern?

Genau, das ist die Problematik, denn dadurch wird die Infrastruktur der Wohngebiete verändert. Seit zehn, fünfzehn Jahren beobachten wir diesen Prozess. Plattformen wie Airbnb und Instagram puschen das natürlich. So kann man ganz nah rankommen an die Alltagsorte der Berlinerinnen und Berliner. Wichtig ist, dieses Problem zu erkennen und zu beschreiben. In den letzten Jahren haben einige Bezirke schon Alarm geschlagen, vor allem Friedrichshain-Kreuzberg, aber auch Mitte und Prenzlauer Berg. Sie wurden jedoch zunächst allein gelassen mit den Problemen vom Senat, der sich nicht zuständig fühlte: nehmen Sie den Mauerpark und die Müllproblematik nach dem Wochenende. Mittlerweile hat sich etwas geändert. Das Land Berlin hat anerkannt, dass das kein rein lokales Problem ist. Und diese Wende in der Tourismuspolitik hat unser Tourismuskonzept erarbeitet und formuliert. Da ist zum Beispiel die Stadtreinigung aktuell ja auch schon flexibler geworden.

Welche konkreten Maßnahmen sind geplant?

Wir brauchen unbedingt eine räumlich differenzierte Steuerung, jeder Stadtbezirk sollte also einen Tourismusbeauftragten haben. Das gibt es bislang noch viel zu wenig. Tourismusförderung wurde in der alten Denkweise meist nur als Wirtschaftsförderung gesehen. Wir meinen, der Tourismus ist essenzieller Teil der gesamten Stadtentwicklung. Also muss die Leitlinie sein, dass alles, was das Erleben der Touristen verbessert, auch das Leben der Berlinerinnen und Berliner verbessern muss – das ist ein hoher Anspruch. Wir brauchen kiezspezifische Antworten. Bezirke und Land müssen am Ende ein gemeinsames Orchester bilden.

Wie kann das konkret aussehen?

Das betrifft zum Beispiel den Aufbau eines Informations-Leitsystems; Infostelen für Besucher. So könnte man viel mehr Routen entwickeln und den Leuten an die Hand geben. Das müssen keine analogen Stelen sein, sondern digitale Stelen mit WLAN. Ein anderes Beispiel wäre ein Hotelansiedlungsmanagement, damit die Übernachtungsangebote über die gesamte Stadt entzerrt werden. In Mitte und Kreuzberg ist die Hotel- und Hos­teldichte stellenweise zu hoch. Diese Entwicklung muss stärker moderiert und gesteuert werden vom Land.

Immer mehr Touristen in der Stadt, das bedeutet auch eine Belastung des Verkehrssystems.

Das betrifft natürlich das gesamte Verkehrskonzept. Insgesamt sollten der ÖPNV und der Fahrradverkehr gefördert werden, denn auch das Elektroauto ist keine wirkliche Antwort. Gerade der Ausbau der Fahrradwege müsste vorangetrieben werden, auch durch die Parks der Stadt. Im Tiergarten und im Görlitzer Park fehlt so etwas weitgehend. Fahrradschnellwege sind damit auch gemeint. Einheimische und Besucher könnten sie gemeinsam nutzen. Was die vielen Schiffe in Berlin betrifft, eine Vision wäre: Im Jahr 2030 ist der gesamte Wassertourismus nicht mehr dieselbetrieben, sondern vielmehr mit Solarantrieb.

Danke für das Gespräch.

Karen Schröder

 

75 – Sommer 2018