Sachlichkeit und Sensibilität

Die Malerin Lotte Laserstein erlebte ihre höchste Schaffenskraft in einer schlimmen Zeit und wurde in ihrer künstlerischen Entwicklung durch die Politik gehindert. Dennoch schuf sie viele beeindruckende Werke. Eine umfassende Ausstellung lässt uns die Künstlerin fast hundert Jahre später neu entdecken

Das Gesicht von Lotte Laserstein kann man sich bald in Natura vorstellen: eine klare Fläche, eingerahmt von dunkel gewelltem, kurz geschnittenem Haar. Große, skeptische, mit den Jahren zunehmend melancholischer blickende Augen. Um den Mund einen Zug, der scharfe, sachliche Worte ebenso zu verraten scheint wie einen spöttischen Witz. Immer wieder hat sich die Malerin in den vielen Jahrzehnten ihrer künstlerischen Arbeit selbst porträtiert. Oft sind auf diesen Porträts auch Ausschnitte ihres Ateliers zu sehen oder andere Bezüge zu ihrem unmittelbaren Alltag. Und doch bleibt Laserstein seltsam ungreifbar. Es stellt sich kein Bild davon ein, wie sie als Mensch gewirkt haben mag. Das ist besonders erstaunlich, weil ihr großes Talent darin bestand, Menschen nicht nur abzubilden, sondern ihre Persönlichkeit zu zeigen. „Von Angesicht zu Angesicht“ heißt dann auch die üppige Ausstellung, die die Berlinische Galerie jetzt dem Werk der lange zu Unrecht vergessenen Berliner Künstlerin widmet.

Geboren wurde Lotte Laserstein 1898 in einer ostpreußischen Kleinstadt. Der Vater, ein Apotheker, starb früh, und die Familie zog zur Großmutter nach Danzig. 1912 kam Lotte Laserstein mit Mutter und Schwester nach Berlin, wo sie Abitur machte. Bis 1927 studierte sie Malerei an den damals neu gegründeten, einem reformerischen Kunstbegriff verpflichteten „Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst“ und schloss mit Auszeichnung ab. Auf diesen Erfolg – sie war eine der ersten Frauen, die überhaupt zur akademischen Kunstausbildung zugelassen wurden – dürfte Laserstein stolz gewesen sein: In mehreren Selbstporträts stellt sie sich ausdrücklich als Malerin mit Palette und Staffelei dar. Ab 1927 betrieb sie in ihrem Atelier in Schmargendorf eine Malschule und verdiente so ihren Lebensunterhalt selbstständig mit Kunst.

Bald begann sich der Durchbruch abzuzeichnen: 1928 erwarb die Stadt Berlin ein Bild von ihr, in den folgenden Jahren nahm Lotte Laserstein an über zwanzig Gruppenausstellungen und Kunstwettbewerben teil, 1931 hatte sie ihre erste Einzelausstellung. Lotte Lasersteins künstlerische Wurzeln liegen im Naturalismus des 19. Jahrhunderts. Den avantgardistischen Strömungen ihrer Zeit, vor allem dem Expressionismus, entzog sie sich, und auch der Neuen Sachlichkeit ist sie nicht ohne Weiteres zuzurechnen. Doch verband sie moderne Nüchternheit auf eine Weise mit psychologischer Sensibilität, die noch heute fasziniert. Viele Besucherinnen und Besucher der Berliner Ausstellung stehen vor den Bildnissen wie vor historischen Selfies und studieren gebannt die Formen der Schuhe, die Frisuren und immer wieder die lebendigen Gesichtsausdrücke und Posen der Modelle. Auf manchen Bildern sieht man auch deutlich die Straßenzüge der Weimarer Republik. Doch sie bleiben stets jenseits der Fensterscheibe. Im Schutz des Ateliers porträtiert Laserstein, oft in intimen Posen, immer wieder ihre Freundin Traute Rose, die auch ihr Lieblingsmodell war.

Ansonsten weiß man nicht viel über ihr Privatleben. Lediglich das Drama ihrer Zeit lässt sich rekonstruieren: Laserstein war christlich getauft, wurde jedoch aufgrund ihrer jüdischen Großeltern als Jüdin behandelt. Ab 1933 durfte sie nicht mehr ausstellen, 1935 musste sie ihre Malschule schließen. 1937 emigrierte sie nach Schweden. Dort verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Auftragsmalerin und geriet aus dem Fokus der Kunstwelt. Ihr Bemühen, Mutter und Schwester aus der Kriegsgefahr in Berlin zu sich zu holen, scheiterte. 1943 wurde die Mutter im KZ ermordet, die Schwester überlebte seelisch zerstört.

Eines ihrer wichtigsten Werke, das groß dimensionierte Tableau „Abend über Potsdam“ von 1930 hatte Laserstein zusammen mit anderen Werken nach Schweden mitnehmen können: Scheinbar beiläufig gruppieren sich fünf junge Menschen um einen Tisch auf einer Terrasse. Trotz des weiten Blicks auf die Stadt wirken die Figuren gedrückt, voneinander isoliert und in Stagnation gefangen. In der Berliner Ausstellung ist das beeindruckende Werk gleich zweimal zu sehen. Einmal als Original und einmal als Hintergrund eines Selbstporträts, das Laserstein in ihrem schwedischen Atelier zeigt. Die Melancholie ist greifbar und verständlich. Unerträglich hoch war der Preis, den die begabte Künstlerin lebenslang dafür bezahlte, in eine feindliche Epoche hineingeboren zu sein. Auch nach dem Krieg blieb sie im schwedischen Exil, wo sie 1993 starb. Erst kurz zuvor hatte die Kunstwelt sie neu zu entdecken begonnen.

Susann Sitzler

 

Information
Lotte Laserstein – Von Angesicht zu Angesicht, Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, Kreuzberg,
Mi – Mo 10 – 18 Uhr, Di geschlossen.
Bis zum 12. August 2019

78 - Frühjahr 2019
Kultur