Sparsame Gestik und ein exakter Scheitel

Der Berliner Student Marcel Eckardt ist Schiedsrichter im Snooker. In der Sportart gibt es keine deutschen Spitzenathleten.

„Pool-Billard, das ist meine Leidenschaft“, sagt Marcel Eckardt, der an einem der zwölf grünen Tische eine bunte Kugel nach der anderen in die Löcher versenkt. „Ich bin so oft wie möglich hier“, so Eckardt, denn der Bata Club biete die besten Voraussetzungen und habe auch die besten Tische in ganz Berlin. 

Der 29-jährige Student aus Berlin ist nicht nur der beste Deutsche in einer Sportart, in der deutsche Akteure der Welt-spitze meilenweit hinterherlaufen. Eckardt gehört zur Welt-spitze. Er ist einer der 15 handverlesenen Snooker-Schiedsrichter, die bei den hochklassigen Weltranglisten-Turnieren ein Finale leiten dürfen. Eine größere Diskrepanz zwischen den Leistungen der einheimischen Spieler und der Klasse des Schiedsrichters gibt es in Deutschland in keiner anderen Sportart.

„Vielleicht haben wir die beste Schiedsrichter-Ausbildung“, vermutet Marcel Eckardt, der die typisch britischen Eigenarten des Snooker auch im täglichen Leben und im Gespräch nicht ablegt: auffallend gute Manieren, Rhetorik in druckreifen Sätzen, sparsame Gestik und ein exakt sitzender Scheitel. 

In seiner neunjährigen Karriere als Schiedsrichter am Snookertisch hat er allen Super-Profis mehrfach die Hand gegeben und über deren korrekte Stöße gewacht. „Aus den Top 100 der Weltrangliste stand ich höchstens mit einem oder zweien noch nie am Tisch“, sagt er. Mit dem überragenden Engländer Ronnie O’Sullivan hatte er das Vergnügen nach eigener Aussage mehr als 50-mal. So steht er mit den Stars des fairsten Sports der Welt seit Jahren auf Du und Du.

Bei diesen Treffen sieht die Anzugordnung von Marcel Eckardt anders aus als bei seinen eigenen Stößen am Pool Billard im Bata Club. Bei Weltranglisten-Turnieren ist nicht nur für die Profis das Outfit sogar in den Regeln festgelegt. Auch der Schiedsrichter muss sich danach richten: Smoking, weißes Hemd mit Fliege, schwarze Schuhe und die unentbehrlichen weißen Handschuhe. Den Anzug stellt der Weltverband alle zwei Jahre, das andere muss der Schiedsrichter selbst mitbringen. „Handschuhe habe ich bestimmt hundert Paar daheim liegen. Die halten wegen der Kreide immer nur für eine, höchstens zwei Partien, und werden mir von einer Kollegin aus China mitgebracht. Das ist preiswerter“, gesteht der Top-Referee, auch aufs Finanzielle achten zu müssen.

Das war vor allem am Anfang schwierig. Als der Schüler im heimatlichen Töppeln bei Gera einen Snookerwettbewerb im Fernsehen verfolgte, wollte er unbedingt hinter die anfangs undurchsichtigen Regeln steigen. Weil in der Thüringer Gegend nichts zu machen war, nahm er 2008 ohne große Ambitionen die Ausschreibung zu einem Lehrgang im sächsischen Hohenstein-Ernstthal wahr. „Danach war ich im C-Kader, wollte aber mehr. Ich reiste zu Turnieren durchs ganze Land. Das war sehr kostenintensiv, ich musste ja für die Reisen und Unterkünfte selbst aufkommen.“

Damals wurde der Gedanke, besser der Traum, geboren, von der Beschäftigung am Snookertisch leben zu können. „Ich sprach ja gerade mal thüringisch gefärbtes Schulenglisch.“ Trotzdem bewarb er sich beim Weltverband als Schiedsrichter und wurde zu einem Turnier nach Brügge eingeladen. In Belgien muss er auf den Obmann und Lehrmeister, den Niederländer Jan Verhaas, einen solchen Eindruck gemacht haben, dass der junge Deutsche sogar das Halbfinale leiten durfte. Durch die Leidenschaft für Pool-Billard und als Mitglied des 1. PBC Gera machte er in dem heimatlichen Club nach seinem Abitur nicht nur ein freiwilliges soziales Jahr, sondern konnte über die Vereinsarbeit und Trainerstunden auch seinen Zivildienst abdecken.

„Ich hatte sicher auch etwas Glück mit meinem Einstieg in die Snooker-Szene, weil der Turnierkalender in dieser Zeit viel umfangreicher wurde und dadurch mehr Referees gebraucht wurden“, sagt er mit Bedauern, über seine vielen Treffen mit den Weltklasseleuten seiner Sportart nicht Buch geführt zu haben. „Ich weiß nicht einmal mehr, was in Brügge meine erste Partie war. McManaus gegen Bingham oder Lisowski gegen einen belgischen Amateur ...“ Solche Gedächtnislücken kann sich Eckardt in seiner täglichen Arbeit nicht leisten. „Da muss ich mir die Stellung jederzeit genau einprägen, vor allem die Lage der weißen Kugel. Manchmal gerät bei einem Foul ja einiges durcheinander. Und dann bin ich dafür verantwortlich, dass alles wieder so hingelegt wird wie vor dem Foul.“

Schon lange hat sich der Student in der Top-Riege der Schiedsrichter etabliert und kann von seiner Tätigkeit derzeit gut leben. „Ja, ich bin Profi. Anders kann ich das jetzt nicht ausdrücken“, sagt er nach kurzem Überlegen. Dabei nimmt er in Kauf, dass er rund ein Drittel des Jahres durch die Weltgeschichte reist und bei Turnieren vor allem in ganz Europa, aber auch in Australien oder Indien, seltener in China, als Unparteiischer am Tisch steht. „Das ist doch ein zusätzlicher Vorteil. Ich lerne nebenbei die halbe Welt kennen.“ Die Reisen und Unterkünfte zahlt mittlerweile der Weltverband. Den „Dienstplan“ erhält er jeweils halbjährlich und kann sich dann die Zeit einteilen. Die Unparteiischen werden auf Honorarbasis für die Turniere gebucht und stehen dabei unter ständiger Beobachtung. Fehler sollte man sich nicht zu viele leisten.

Anfang Februar war er beim German Masters im Berliner Tempodrom im Einsatz, wo die Elite um 363 000 Euro Preisgeld spielte. Bei der Sensation, als der Engländer Kyren Wilson den Pokalverteidiger und amtierenden Weltmeister Mark Williams aus Wales mit 5:0 ausschaltete, stand der Berliner am Tisch. Diese Veranstaltung bietet für den Studenten der Politikwissenschaften, Verwaltungswissenschaften und Soziologie alljährlich eine Annehmlichkeit der besonderen Art. „Ich muss mal nicht in ein Hotel, kann daheim schlafen, muss die Bücher nicht mitnehmen und kann mich in der freien Zeit meinem Fernstudium widmen.“ Mit dem Berliner Turnier verbindet Marcel Eckardt ohnehin nur beste Erinnerungen. „Ich habe hier mein erstes Finale geleitet und auch mein erstes Maximum am Tisch begleitet“, sagt er zum Championat des Jahres 2015. Damals besiegte Mark Selby seinen englischen Landsmann Shaun Murphy in einem packenden Endspiel 9:7, zuvor stand Eckardt am Tisch beim Maximum von Judd Trump. 

Ein Maximumbreak ist das Nonplusultra des Sports, wenn ein Spieler hintereinander alle Kugeln in der richtigen Reihenfolge abräumt. Das ist sehr selten und in der langen Geschichte des Snooker erst 148-mal passiert. Der Thüringer scheint auf solche Höhepunkte spezialisiert. „Stimmt. So lange bin ich ja nun auch noch nicht dabei. Aber ich habe schon fünf Maximums von fünf verschiedenen Spielern als Schiedsrichter am Tisch erlebt.“

Nach dem Berliner Turnier und einer Veranstaltung in Indien steht der Saison-Höhepunkt an. In Sheffield, dem Mekka des Sports, wird von Ostern bis zum ersten Mai-Wochenende die Weltmeisterschaft ausgetragen. Dort hat Marcel Eckardt ein ganz persönliches Ziel, das wie die schnelle Vollendung seines Traums klingt. „Ich möchte einmal der jüngste Referee sein, der ein WM-Finale leitet“, gesteht er. Dieser „Rekord“ steht bisher bei 33 Jahren. Weil der Thüringer aber erst im Oktober 30 wird, hat er dafür sogar noch ein paar Weltmeisterschaften Zeit.

Hans-Christian Moritz

78 - Frühjahr 2019
Sport