Der Jahrhundertduft

Die rosaroten Mairosen des Monsieur Mul wachsen nur für Chanel. Dessen Parfümeur Jacques Polge ist der Komponist aller Düfte. Ein Besuch im Hinterland von Grasse.

Wenn es Mai ist an der Côte d’Azur, blühen in Grasse die hundertblättrigen Rosen. Nur einmal im Jahr für kurze vier Wochen entfalten sich die exquisiten roséfarbenen Blüten der Rosa Centifolia im feinen Mikroklima von Mittelmeer und Haute Provence zu üppiger Schönheit. Mairose wird die Centifolia auch genannt. Andere sagen Malerrose, weil ihr Abbild sich auf zahlreichen Gemälden flämischer Künstler des 17. und 18. Jahrhunderts findet.
Nur ihren köstlichen Duft, den konnten auch die besten Bildermaler nicht einfangen. Das ist die Arbeit von Spezialisten. Joseph Mul weiß, wie das geht, denn er ist Gärtner und Hüter all der Mairosenbüsche im Hinterland von Grasse und auch für das Destillieren ihrer Blüten verantwortlich. Seine strotzenden kostbaren Rosen wachsen nur für Chanel. Deren Parfum Chanel No.5 sollen sie mit dem Konzentrat ihrer Blütenblätter, nicht ohne den im Herbst blühenden Jasmin, die unvergleichliche Herznote verleihen.

Den Pflückerinnen, den Tunesierinnen und Kalabreserinnen in ihren bunten Kleidern und schützenden Strohhüten, ist das herzlich egal. Sie sind von weit her gekommen, nicht um zu duften, sondern um Geld zu verdienen. Außerdem ist Eile angesagt, denn bald wird es heiß in der Ebene, und die kühle Frische der Rosen ist schnell dahin. Sobald die Knospen sich in der Morgensonne geöffnet haben, ist es aus mit ihnen. Klack! Macht es leise. Klack! Klack! Klack! Wie ein feines Konzert klingt es aus dem matten Laub, wenn die Frauen mit beiden Händen gleichzeitig Kelch für Kelch brechen und in ihre großen Umhängetaschen gleiten lassen. Zum Schutz gegen die naschhaften Bienen haben sie Handschuhe übergestreift. Fünf bis sechs Kilo Blütenköpfe schaffen die Arbeiterinnen auf diese Weise in einer einzigen Stunde. Wenn der Beutel voll ist, wird er in einen Jutesack entleert. Vier Wochen geht das so, bis Joseph Muls sieben Hektar große Rosenplantage ausgeblüht ist.

Hohe Zeit der Rosen. Nur das Beste für die Frauen. Aber wäre Katharina de‘ Medici nicht so versessen darauf gewesen, ihre hauchzarten ledernen Glacéhandschuhe zu parfümieren, hätten sich Grasse und seine umliegenden Landschaften sicher nie zu solch einem Zentrum der Düfte entwickelt. So siedelten sich schon im 17. Jahrhundert zu den bereits ansässigen Gerbereien und Handschuhmachern die weltbesten Parfümeure dort an. Sicher, das ist längst Geschichte, aber Grasse lebt sie noch immer. Die Geschichte von Chanel No.5 und den Mairosenblüten des Joseph Mul ist nur eine davon. Jede ist einzigartig.

Seit 1921 ist Chanel No.5 unschlagbar der moderne Klassiker unter den Damendüften. Der Parfümeur Ernest Beaux hat ihn kreiert, nach einer Idee der Französin Gabrielle „Coco“ Chanel, mit der ihn der russische Großherzog Dimitri bekannt gemacht hatte. Eine Begegnung mit Folgen. Mademoiselle Chanel war schließlich die Stil-Ikone ihrer Zeit. Mit ihrer schlichten und eleganten Mode hatte sie erfolgreich dem Kitsch der Jahrhundertwende den Garaus gemacht. Einzig ein passendes Parfum fehlte, bis sie Ernest Beaux traf. Seither begleitet Chanel No.5 eine Aura von Upper Class und Eleganz und bildete zahlreiche Legenden.

„Contemporary Art of Parfum“ nennt das Jacques Polge, und er hat recht. Für ihn ist Chanel No.5 so modern wie immer. „Qualität und Tradition muss man nicht erneuern. Dafür gibt es Neuentwicklungen.“ Seit 30 Jahren leitet Jacques Polge das Duftlabor von Chanel in Neuilly-sur-Seine, nahe bei Paris. In der Nachfolge von Ernest Beaux und Henri Robert komponiert er als exklusiver Parfümeur alle neuen Düfte des Hauses und wacht über die unveränderte Einzigartigkeit von Chanel No.5. Die „Nase“ von Chanel wird er genannt. Nein, natürlich denke er bei der Entwicklung von Düften nicht an bestimmte Frauen, und lächelt dabei ein ganz klein wenig nachsichtig: Parfum machen sei doch eher eine intellektuelle Arbeit denn eine erotische. Auch Chanel No.5 ist nur eine Formel? Wie unromantisch, finden wir und schauen bei Jean Goujole, dem Präparateur im Pariser Labor, mal nach: dort, wo alle Extrakte hergestellt werden, die für die Parfums von Chanel nötig sind. Eher kein sinnlicher Ort für Träume. Stimmt schon. In metallenen Fässern gären die Ingredienzien. Im Labor sind auch die Formeln aller Parfumentwicklungen aus dem Hause Chanel sicher verwahrt. Chanel No.5, so viel wird verraten, das sind gerade mal drei Prozent Rosa Centifolia und zehn Prozent Jasmin von Joseph Muls Feldern, ein wenig Bitterorange aus Grasse, Ylang-Ylan von den Philippinen, ein Prise Vanille aus Madagaskar und etwas kanadische Duftakazie. Der Rest bleibt ein Geheimnis. Immerhin siebzig Prozent Alkohol bringen die natürlichen Düfte eines Parfums zum Ausdruck und die Frauen zum Schweben.

Der Mairosenextrakt kommt als Paste aus Grasse. 60 Kilo im Jahr, mehr nicht. Paste ist einfach länger haltbar. Aus ihr wird im Labor ätherisches Öl gewonnen. Bevor das allerdings so weit ist, wiegen die Gärtner Joseph Muls die rosenvollen Jutesäcke. Dann taumeln die Blütenblätter daraus in einem herrlichen Wirbelwind federleicht in eine große Trommel. Betörender Duft steigt auf. Eine Ahnung von etwas Großem. Die Dampfdestillation kann beginnen. Wie das geht, das wussten ja schon die Araber. Joseph Mul hat derweil seine Schirmmütze gut gelaunt in den Nacken geschoben und Jacques Polge in ein Gespräch verwickelt.
Trotz aller Blütenträume, „Wir sind artifiziell“, sagt der. „Wir kopieren nicht die Natur.“ Und wenn die Labors noch so perfekt sind, „am Ende entscheidet die Nase“. Der Mann sieht eigentlich eher so aus, als würde er Gedichte schreiben. „Meine Nase ist einfach trainierter als Ihre, nicht klüger“, lächelt er freundlich. Jedenfalls hat Jacques Polge gleich eine Idee, wie das Ergebnis riechen könnte, wenn er eine Duftformel liest. Gelernt ist gelernt.

Mehr als 400 Düfte überschwemmen jedes Jahr den Markt. Die meisten davon verschwinden auch wieder. „Die Banalisierung des Parfums“, nennt Jacques Polge das. „Ist doch wie im Supermarkt.“ Damit hat Chanel nichts zu tun. „Wir bleiben einzigartig. Und genau das wollen wir den Menschen vermitteln.“ Einzigartig ist auch der Flakon von Chanel No.5. Mit einem Häutchen wird die Öffnung versiegelt. Ein Glaspfropfen drauf. Ein drumrum gewirbelter Baumwollfaden und ein Wachssiegel. „So was macht niemand mehr“, weiß Patrice, der Chef der Produktionslinie von No.5, der den schönen Familiennamen Casanova trägt.
Und Monsieur Polge? Wenn es nach ihm ginge, hätten seine Düfte die Magie von Liebe. Die möge sich ausbreiten. Wenn er arbeite im Labor in Neuilly, dann trage er natürlich kein Parfum. „Da muss man auf Distanz bleiben. Wenn ich mein Haus in Paris oder mein Auto verlasse, dann mache ich kurz Pfff, Pfff mit einem Duft. Dann habe ich bei meiner Rückkehr immer eine kleine Überraschung." 

Inge Ahrens

 

36 - Herbst 2008