Forschungsarabeit

Ausstellung für GASAG-Kunstpreisträger in der Berlinischen Galerie.

Eine Person tritt von links ins Bild eines schmalen Ganges. Eine andere kreuzt von rechts. Es gibt keine Berührung. Dann treten neue Personen auf – links, rechts. Der Ort, es sind die schmalen Gänge zwischen den Stelen des Berliner Holocaust-Mahnmals, bleibt der gleiche, die Szenerie wechselt geringfügig. Der Künstler Marcellvs L., diesjähriger GASAG-Kunstpreisträger, beobachtet per Video scheinbar banale Situationen und untersucht dabei das Phänomen Zeit, den Raum, Begegnungsformen von Menschen. So wie hier ist Kunst generell spielerisch-ästhetische Erforschung von Realitätsverhältnissen. Sie hilft mit immer neu zu erfindenden Mitteln, alle möglichen zeitgemäßen Verhältnisse, die Kunst selbst eingeschlossen, zu verstehen. Künstler untersuchen, wie Menschen miteinander agieren, welche Rollen sie spielen, wie schnell und warum diese gewechselt werden. Jedweder Wandel menschlicher Verhältnisse ist nicht nur ein Gegenstand der Kunst, sondern zugleich deren Ursache. Es wird erforscht, was Kunst heute ist und wie sie, wo doch ihre ureigensten Sprachsysteme atemschnell absorbiert, ihre Wirkungen kommerzialisiert werden, funktioniert, und ob ihre ästhetischen Strategien noch relevante Emotionen auszulösen vermögen. So viel Forschung, könnte man meinen, war nie zuvor in der Kunst, denn davor war Abbildung und Vorzeigen und Schönheit transportieren und Sehnsüchte befriedigen oder Erwecken, Anklagen, Mahnen, Meditieren, wenn man außer acht lässt, dass es eigentlich immer um Erkundung ging: etwa der Möglichkeit, Raum darzustellen, Farbe in Licht zu zerlegen, Körper in Formen aufzulösen, die Leinwand verschwinden zu lassen, soziale Interaktionen freizusetzen usw. Mit der Kunst etwas zu untersuchen, heißt letztendlich, dem Betrachter eine gute Portion Mit-arbeit abzuverlangen, Gedankenentwicklung – und die benötigte Zeit. Also ist Kunst ein Zeitbeansprucher par excellence. Darauf muss man sich auch einlassen, wenn man sich den Sound- und Videoinstallationen von Marcellvs L. hingibt. Der in Berlin lebende, gebürtige Brasilianer (1980) ist den Gegenwartskunstfreunden dank der Galerie Carlier Gebauer bekannt, die in diesem Frühjahr z.B. seine Screens mit dem Titel „52°30‘50.13“ N 13°22‘42.05“ E“ zeigte.

Der zum siebten Mal in Kooperation von GASAG und dem Kunstverein Flutgraben e.V. vergebene GASAG-Kunstpreis zur Förderung von Nachwuchskünstlern in Berlin ist mit 7.500 Euro dotiert. Er beinhaltet den Ankauf einer Arbeit und darüber hinaus die Produktion eines Werkkatalogs durch den jungen Kunstverein. Der Jury gehörten in diesem Jahr neben Udo Kittelmann vom Museum für Moderne Kunst Frankfurt Joel Verwimp als Vertreter des Flutgraben e.V. und mit Heinz Stahlhut auch wieder ein Kurator der Berlinischen Galerie an. Ein Novum aber ist die eigenständige Preisträgerausstellung im Landesmuseum. So mündet eine vieljährige Partnerschaft in eine neue Phase. Die Berlinische Galerie, die neben ihren hauseigenen Auslobungen bereits den Vattenfall-Preis präsentierte, nutzt die Sponsorenzusammenarbeit mit der Industrie, um für künstlerische Gegenwartspositionen aus Berlin mehr Spielraum zu haben und junge neben arrivierten Künstlern zeigen zu können. Es ginge, so Kurator Heinz Stahlhut, auch um die „Aufwertung des GASAG-Kunstpreises“ durch die Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur. „Wir wollen hundert Prozent hinter der prämierten Kunst stehen“, sagt er mit Blick auf ein noch stärkeres kuratorisches Engagement in der Zukunft. Die Überlegung, wie und welche Kunstpreise an das Haus zu binden seien, gehört zum Umstrukturierungsvorhaben des Berliner Museums und resultiert nicht zuletzt aus der Frage, wie man mit den überaus schmalen hauseigenen Finanzmitteln angemessen auf die Lebendigkeit der Berliner Kunstszene reagieren kann.

Eine Dreierbeziehung, wie sie zwischen GASAG, Flutgraben e.V. und Berlinischer Galerie besteht, ist eine dynamische, nicht immer leicht zu balancierende Angelegenheit, in deren Mittelpunkt die Kunst steht. Seit Jahren setzt sich der Flutgraben e.V. für die Wahrnehmung junger Kunstpositionen ein. Die ersten Preisträgerausstellungen waren in der Produzentengalerie des Vereins zu sehen, ehe ein gewisses Nomadentum begann, das den forschenden und genreübergreifenden Charakter der künstlerischen Konzeption des Preises unterstrich. Neben Marcellvs L. werden die Förderpreisträger Amir Fattal, 1978 geboren in Israel, und das amerikanisch-japanische Künstlerduo Jay Chung (1976) und Q Takeki Maeda (1977) im Rahmen der GASAG-Ausstellung gezeigt. Amir Fattal erhält den Förderpreis vor allem für seine Video-Arbeiten. Mit ihnen vollzieht er auf der Grenze zwischen Dokumentation und Selbstversuch seine Recherche in der Schwulenszene. Das Künstlerduo Jay Chung und Q Takeki Maeda bezieht in seiner Kunst nicht-künstlerische Methoden als Arbeitsinstrumentarium ein, um die Subversivitätspotentiale von Kunst – natürlich – zu erforschen.

Anita Wünschmann

 

 

Ausstellung

Berlinische Galerie – Landesmuseum für 
Moderne Kunst, Fotografie und Architektur

Alte Jakobstraße 124-128, 10969 Berlin.

Geöffnet täglich (außer Dienstag) 10–18 Uhr

www.berlinischegalerie.de
 

36 - Herbst 2008