Platz für Wildnis

Kein Mensch, kein Haus, keine Autobahnbrücken, in der Ferne knattert ein Moped. 110 Kilometer vor Berlin Platz für Weite und ungestörte Blicke über eine Auenlandschaft. Stille für die Stimmen der Wildnis und mit Gemächlichkeit wandernd, radelnd, paddelnd die Schönheit des Nationalparks Unteres Odertal entdecken. Brandenburgs einziger Nationalpark bildet mit dem angrenzenden polnischen Landschaftsschutzpark einen zusammenhängenden Naturraum zwischen Hohensaaten und Stettin (Szczecin). Langfristig soll daraus ein europäischer Internationalpark werden.
Silberweiden, Baumfeen an den Ufern halten Hof. In den Kronen hocken Seeadler, Beutelmeisen hängen ihre Nester in die Äste, Fledermäuse ruhen in den Baumhöhlen. Sogar der seltene Eisvogel ist hier heimisch. Der Welt entrückt, eine Arche gespeist von der Oder, diesem Schmuddelkind unter Deutschlands Strömen. Mehr eine Grenze, mehr ein Symbol von Krieg und Vertreibung. Uwe Rada bescheinigt der Oder die Abwesenheit von einem Mythos oder literarischem Ruhm. Die Oder als Bauersfrau, die unscheinbare, die ackert und schleppt. 59 Kilometer durch Tschechien, 580 Kilometer durch Polen, 162 Kilometer deutsch-polnischer Grenzfluss, bevor er wiederum als polnischer Fluss ins Stettiner Haff mündet und von dort in die Ostsee.

Wildnis wünscht sich der Nationalpark. Hier ist ein guter Ort dafür, selbst die beschiffbaren Hauptarme sind nicht gänzlich gezähmt. Niedrigwasser, Hochwasser, Treibeis stoppen den Schiffsverkehr. Schwedt zählt im Jahresschnitt 40 Tage Eisstand. Dann geht gar nichts mehr. Ist das Treibeis vorüber, kündigt die Adonisröschenblüte den Frühling an. Der Kalender der Naturwacht notiert: „Die Liste der Brutvögel liest sich zur Balz wie eine Orchesterbesetzung. Der Kamingimpel flötet. Feld- und Rohrschwirle surren im Schilf. Laut und rhythmisch beherrscht der Sprosser die Landschaft. Meckernd fliegt die Bekassine durch die Nasspolder. Im Sommer tanzen Schwalbenschwänze auf den Deichen, der Herbst ist Vogelzugzeit, im Winter treffen die Singschwäne ein.“

Das Untere Odertal gehört zu den tierartenreichsten Gebieten Deutschlands, dicht beieinander liegen unterschiedlichste Lebensräume: Trockenrasen, Hangwälder, Auwälder, Feuchtwiesen, Röhricht, Tümpel, Teiche, Quellbäche in den Odertalhängen, die Altarme im Odertal selbst und die Stromoder. Über 1000 Pflanzenarten wurden nachgewiesen, viele von ihnen sind in ihrem Bestand bedroht. Seeadler, Fischadler und Schreiadler brüten im Nationalpark, Schwarz- und Weißstorch und scheue Kostbarkeiten wie der Wachtelkönig. Gänse, Kraniche und andere Zugvögel nutzen das Untere Odertal als Rast- und Überwinterungsgebiet. Fischotter und Biber haben sich dauerhaft angesiedelt.

Hier befindet sich das einzige intakte Poldersystem Deutschlands. Nach niederländischem Vorbild wurde das Flussgebiet ab 1894 großflächig eingedeicht. Zehn Jahre später begann man mit der Verlegung der Oder. Sechs Polder umfasst der Nationalpark. Hohe Winterdeiche, die sich am westlichen Talrand hinziehen, schützen die Orte. Entlang der Oder verlaufen die Sommerdeiche, die jedes Jahr im November geöffnet werden, so dass das Wasser der Oder die ganze Breite des Flusstales bedecken kann. Im Winter und im Frühjahr sind daher die Polderwiesen geflutet. Ist im April die Flut zurückgegangen, werden die Wehre der Sommerdeiche wieder geschlossen. Das Restwasser wird innerhalb weniger Tage abgepumpt, und bis in den Herbst hinein dienen die Trockenpolder als Weide oder Wiese.

Der Schutz des einzigen deutschen Auennationalparks ist Kernanliegen des novellierten Naturparkgesetzes von 2007. Der vorgeschriebene Anteil von purer Wildnis von 50 Prozent  wird durchgesetzt, jedoch ohne Zeitvorgabe. Das Gesetz berücksichtigt mehr als sein heiß diskutierter Vorgänger die Belange der ansässigen Bevölkerung und die naturtouristische Entwicklung. Dass die Wellen hoch schlugen, kann man sich vorstellen bei einer Region, die mittlerweile Modellgebiet gegen Überalterung ist und deren Landkreis Uecker-Randow im Ranking der kaufkraftärmsten Landkreise bundesweit den ersten Platz belegt.
Schlittschuhlaufen und Pilzesuchen, alles geregelt für jede Zone. Ob Kreisel- oder Balkenmäher zum Einsatz kommen, ob Wiesen von innen nach außen gemäht werden, eine Großvieheinheit oder mehr auf der Weide stehen darf, Elektrozäune zarte Randvegetationen vor den Kühen schützen müssen. Es geht um die Existenz seltener Vögel und Pflanzen und der Bauern, der Fischer und der bescheidenen Tourismusangebote, um die Interessen von Naturschützern, Jägern, Anglern – eine komplizierte Angelegenheit, sich auf begrenztem Raum mit hohen Erwartungen von allen Seiten zu vertragen.

Brit Hartmann

 


Informationen

  • Auf dem Wasser durch die Wildnis geführte Kanutouren, vom 15. Juli bis 14. November
    Kranichwochen mit täglichen Exkursionen und Vorträgen, 26. September bis 5. Oktober
  • Criewen Nationalparkhaus Museum und Ausstellung auf dem Gutshof des Schlosses Criewen,
    1. April bis 31. Oktober, Mo bis So 9–18 Uhr
  • Anfahrt mit dem Auto über die A11 Richtung Prenzlau/Stettin, Ausfahrt Joachimsthal,
    B2 zwischen Angermünde und Schwedt/Oder, Abzweig Criewen, oder mit der
    Regionalbahn RE 3 nach Schwedt.

 

www.unteres-odertal.de
www.nationalpark-unteres-odertal.eu

 

35 - Sommer 2008