Problemquartier und Szenekiez

Immer mehr Galerien, Bars und Ateliers öffnen im nördlichen Teil des ­Bezirks Neukölln. Gleichzeitig gilt Neukölln-Nord als sozialer Brennpunkt mit Jugendgewalt und ­hohem Ausländeranteil. Ein Spaziergang zwischen Maybachufer und Sonnenallee.

Immer dienstags und freitags wird das Neuköllner Maybachufer zum Anziehungspunkt für Berliner und Touristen. Eine multikulturelle Atmosphäre mitten in der deutschen Hauptstadt ­bietet der sogenannte Türkenmarkt, auf dem Auberginen und Datteln, gefüllte ­Oliven und Schafskäse angeboten werden. So attraktiv ist der Markt, dass ihn selbst viele Reiseführer erwähnen – wobei sie das Maybachufer gerne dem Stadtteil Kreuzberg zu­ordnen. Das aber ist falsch, beginnt doch Kreuzberg erst nördlich des Landwehrkanals, am Paul-Lincke-Ufer.

Zum Kreuzberg-Trick greifen auch manche Immobilienmakler, die Wohnungen am Maybachufer oder in der Hobrechtstraße anzubieten haben. Bei Kreuzberg, so ihr Kalkül, denken poten­tielle Mieter an die edlen Restaurants am Paul-Lincke-Ufer, an Modeläden und Straßencafés. Bei Neukölln aber er­blicken sie vor ihrem inneren Auge kriminelle Jugendliche, arabische Großfamilien und soziale Verwahrlosung. Neukölln-Nord, sagte beispielsweise vor kurzem der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Eberhard Schönberg, gehöre zu denjenigen Berliner Gebieten, die „nicht mehr zu retten“ seien. „Die Menschen, die noch Anspruch an ein normales Leben haben und über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, ziehen in andere Bezirke“, behauptete Schönberg.

Dann muss es allerdings ziemlich viele Menschen geben, deren Anspruch an ein normales Leben sich von dem des Gewerkschaftsfunktionärs unterscheidet. In der vom Maybachufer abgehenden Friedelstraße hängen haufenweise Zettel an den Straßenlaternen, mit denen junge Leute gezielt in diesem Kiez eine Wohnung suchen. „Kreuzkölln“ lautet das Stichwort – eine Wortmischung aus Neukölln und Kreuzberg, die für das steht, was Stadtmagazine und Tageszeitungen seit einiger Zeit heraufbeschwören: ein neues Szeneviertel, in dem junge, kreative Menschen noch den Freiraum finden, den sie im längst viel zu teuer gewordenen Prenzlauer Berg und mitterweile auch im von Touristenmassen heimgesuchten Friedrichshain nicht mehr finden.
Aufschwung Neukölln also? Da ist denn doch Vorsicht angebracht. Denn dass Neukölln im Kommen sei, wird seit Jahren behauptet, ohne dass sich die soziale Situation wirklich verbessert hätte. Nach wie vor beträgt der Ausländeranteil im sogenannten Reuterquartier nach Angaben des Quartiersmanagements 30,5 Prozent, und die Arbeitslosenquote liegt bei etwa einem Drittel.

Jetzt aber deutet einiges darauf hin, dass sich doch etwas tut. Vor allem rund um Friedel- und Hobrechtstraße finden sich Ateliers, Bars, Galerien und Läden, die man in einem Problemviertel nicht erwarten würde. Vorreiter dieser Entwicklung ist der Kulturverein Kinski in der Friedelstraße 28, der nach eigener Aussage all jenen eine Heimstatt bieten will, die „sich im Genuss der zeitgemäßen Kunstformen suhlen“ wollen. Da darf dann schon mal die Toilette künstlerisch gestaltet werden. Ebenso zu diesem neuen Neukölln zählen die Café-Bar Breedies, das Restaurant Jimmy Woo mit seiner „French Indochine Cuisine“ und die T-Shirt-Manufaktur Icke, die ihre Produkte sogar in den Galeries Lafayette verkauft.

Maßgeblich verantwortlich für diese Entwicklung ist das Projekt „Gewerbe­leerstand als Ressource im Reuterquartier“. Diese vor kurzem beendete Maßnahme setzte sich zum Ziel, Eigentümer leer stehender Gewerberäume dazu zu bewegen, diese für eine sehr günstige Miete oder sogar nur gegen Begleichung der Betriebskosten kreativen Jungunternehmen zur Verfügung zu stellen. Knapp 60 von ursprünglich 130 verwaisten Läden konnte die Zwischennutzungsagentur auf diese Weise vermieten. Wie nachhaltig diese Erfolge allerdings sind, wird sich erst in einiger Zeit zeigen – nämlich dann, wenn die jungen Kreativen aufgefordert sind, eine marktgerechte Miete zu bezahlen.

Gerüste an einigen Häusern machen immerhin deutlich, dass auch manche Hauseigentümer an den Aufschwung glauben. In der Friedelstraße etwa setzt ein Investor ein Dachgeschoss auf einen Sechziger-Jahre-Bau, das er für stolze 2.100 Euro pro Quadratmeter an den Käufer zu bringen hofft. Dabei gibt es ganz in der Nähe auch bemerkenswerte baugeschichtliche Zeugnisse: An der Ossastraße errichtete der berühmte Architekt Bruno Taut in den zwanziger Jahren eine Wohnanlage im Stil des Neuen Bauens. Und zwischen Fulda- und Weichselstraße erstreckt sich mit der Ideal-Passage ein Wohnensemble, das beispielhaft steht für die Bemühungen der Sozialreformer des frühen 20. Jahrhunderts, auch den unteren sozialen Schichten menschenwürdiges Wohnen zu ermöglichen. Die 121 Ein- und Zwei-Zimmer-Wohnungen verfügten schon zu ihrer Entstehung vor genau hundert Jahren über Warmwasserversorgung und Zentralheizung – zu jener Zeit alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Sozialreformerische Ansätze sind in Neukölln-Nord auch heute wieder nötig. Bundesweit erkannt wurde dies durch den Hilferuf, mit dem sich die Leitung der im Reuterquartier gelege­nen Rütlischule vor zwei Jahren an die Öffentlichkeit wandte. In vielen Fällen sei das Verhalten der Schüler „geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffs und menschenverachtendes Auftreten“, schrieb die Schulleiterin damals und löste damit eine intensive Debatte um das Schulsystem und die Integration von Jugend­lichen mit Migrationshintergrund aus.

Manches ist seither passiert. So vermarktet eines der kreativen Unter­nehmen aus dem Reuterquartier „Klamotten mit Charakter“ unter dem Label Rütli-Wear. Und seit Anfang dieses Jahres fungiert die einst krisen­geschüttelte Ausbildungsstätte als Campus Rütli. Unter diesem Namen verfolgen eine ganze Reihe Bildungseinrichtungen aus dem Umkreis der Schule das von Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky formulierte Ziel, „die Wahrnehmung Neuköllns als eines reinen Problemgebiets hin zu einem modernen, heterogenen Modellbezirk zu verändern“. Wir sind gespannt.

Emil Schweizer

 

35 - Sommer 2008