Sportlicher Krebsgang

Aus dem Traum von Vergleichen mit Europas Fußball-Spitze ist Hertha BSC erwacht. Für den Berliner Traditionsverein geht es nur noch ums Überleben.

Schmährufe auf Hertha BSC gab es in diesem Herbst reichlich. „Willst du Hertha oben sehen, musst du die Tabelle drehen“ war noch das Harmloseste, was Zuschauer im Olympia-Stadion sangen. Die Kulisse zu den Heimspielen in der Fußball-Bundesliga wurde zusehends kleiner. Nur noch eingefleischte Fans muteten sich die Niederlagen in Serie zu. Schlimmer noch: „Wir sind Herthaner – und ihr nicht“, schmetterten die verbitterten Anhänger den Profis zu, die sich immer weniger als kämpferisch und nie mehr ihrer hohen Vergütung würdig erwiesen.
Innerhalb weniger Monate war der Traditionsclub aus den Träumen der Champions League gerissen und in den Strudel des Abstiegskampfes geworfen worden. Da setzte der Verein als erste Maßnahme just jenen Trainer vor die Tür, der den Höhenflug im Frühjahr zu verantworten hatte. Doch der Schweizer Lucien Favre rächte sich und schob auf einer noch nie da gewesenen privaten Pressekonferenz der Vereinsführung die Schuld am Niedergang zu. Der Club reagierte, übersandte dem Geächteten die fristlose Kündigung und machte dem einstigen Heilsbringer wegen vereinsschädigenden Verhaltens die Abfindung streitig.
In solch prekären Situationen schlägt man halt nach allen Seiten aus. Dabei war Lucien Favre im Recht, als er Hertha für die Krise brandmarkte. Am Tor der Champions League rüttelte der Trainer dank solcher internationaler Stars wie Marko Pantelic, Andrej Woronin und Josip Simunic. Doch die konnte man sich für die neue Spielzeit nicht mehr leisten. Und eine Mannschaft ohne Köpfe kann der beste Trainer der Welt nicht zum Gipfel führen. „Wir wollten spielen wie in der Vorsaison. Doch wir müssen jetzt mit dem veränderten Kader kämpfen. Und das hatten wir verlernt“, klagte Mannschaftskapitän Arne Friedrich. Die meisten seiner Mitstreiter schauten den Nationalspieler verdutzt an. Die Mentalität der Profis, die heute als überbezahlte Wanderarbeiter durch die Ligen Europas tingeln, kam schauderhaft ans Tageslicht.
Die Ursachen für den Krebsgang der Herthaner liegen aber tiefer und sind nicht allein mit dem Weggang von drei gestandenen Fußballern zu erklären. Schuld ist eigentlich jener Mann, der den Berliner Club aus der Niederung der Zweitklassigkeit zurück auf die Bundesliga-Karte geführt und Hertha vom belächelten Hätschel-Verein zu einem modernen Unternehmen geführt hatte: Dieter Hoeneß. Der Bruder des allgewaltigen Bayern-Managers wollte es dem Älteren zeigen und dem Dauer-Meister sportlich wie wirtschaftlich die Stirn bieten. Millionen-Gönner wie die Ufa und die Deutsche Bahn waren auch dieser Meinung – doch bei den anfänglichen Erfolgen wurden die warnenden Stimmen in den Wind geschlagen.
Wohl investierte der jüngere der Hoeneß-Brüder in das Berliner Umfeld, vor allem aber in die Mannschaft. Doch der Schuldenberg wuchs auf mehr als 55 Millionen Euro, und der Manager gab mit beiden Händen Gelder aus, die für die Zukunft gedacht waren. Spieler-Flops – der für 7,6 Millionen Euro teuerste Einkauf Alex Alves entpuppte sich als Lachnummer – konnte Hoeneß mit Noteinkäufen zunächst überdecken. Doch als der zu stark gewordene starke Mann im Sommer nach Ende der Freundschaft mit Vereins-Boss Werner Gegenbauer den Hut nehmen musste, waren die Verbindlichkeiten um keinen Cent weniger geworden.
Es folgten Auflagen der Liga, den Personaletat um mindestens fünf Millionen Euro zu reduzieren. Das mündete in den Abschiedsbriefen an Pantelic, Woronin und Simunic sowie in preiswerte Neu- oder Wiedererwerbungen wie Artur Wichniarek, der sich schon einmal als Berliner Dauer-Flop präsentiert hatte. Dem Schweizer Favre, einem peniblen Facharbeiter, fehlte der Gegenpol zum polternden Rechthaber Hoeneß. Sein lange aufgebauter Nachfolger Michael Preetz ist zu sehr der allseits gern gesehene „liebe Micha“, ohne die arrogante Geschäftstüchtigkeit seines Vorgängers annähernd zu erreichen. Obwohl der Niedergang mit der unumgänglichen Entwicklung vorgeschrieben war, opferte der Verein mit Favre ausgerechnet den erfolgreichsten Mann der jüngsten Vergangenheit.
Nun jagt die „Alte Dame“ – der Begriff ist dem Gründungsort auf einem betagten Dampfer namens „Hertha“ entlehnt – andere Rekorde, als vor wenigen Monaten erhofft. Statt des Traums von der ersten Meisterschaft nach fast 70 Jahren geht die Angst vor der Zweitklassigkeit um. Nach dem Vereinsrekord von acht Punktspiel-Niederlagen in Serie kehrt die völlige Ernüchterung ein. Das Publikum, dessen Eintrittsgeld einen wichtigen Faktor im mühsam zusammengehaltenen Rest-Budget ausmacht, kommt nicht mehr in Scharen. Und die kleinen Gruppen zeigen sich auch nicht als treue Fans, sondern stimmen die seit einem guten Jahrzehnt vergessen geglaubten Schmähgesänge wieder an. In der Liga ganz unten angekommen, bleibt nur eine Hoffnung: Tiefer geht es nicht. Es kann nur aufwärts gehen.
Hans-Christian Moritz

 

41 - Winter 2009/10
Sport