Kreuzberg für Kenner

Kollwitzplatz? Winterfeldtplatz? Oranienburger Straße? Alles schön und gut. Für Kenner aber steht fest: Das wahre Herz Berlins schlägt im Kiez rund um die Bergmannstraße und den Chamissoplatz in Kreuzberg.

„Saft Schubser“ – was soll denn das sein? Klar, die Saftschubse ist die wenig freundlich gemeinte Bezeichnung für Stewardessen. Doch der „Saft Schubser‘“ ist kein Fachgeschäft für Flugbegleitpersonal, sondern, wie ein Blick durch das Schaufenster in der Bergmannstraße zeigt, ein Steh-Imbiss mit Säften, Kaffeespezialitäten und Trockenfrüchten. Bis vor einigen Monaten befand sich im Lokal ein Edeka-Laden, der den Kiez seit gefühlt ewigen Zeiten mit allem Lebenswichtigen versorgte.
Szene-Imbiss statt Nahversorger – der Wandel steht für den Umbruch, den die Bergmannstraße in den vergangenen Jahren erlebt hat. Noch in den neunziger Jahren war die Bergmannstraße von Trödelläden gesäumt, zwischen denen der eine oder andere mäßig appetitliche Imbiss auf Kunden wartete. Heute dagegen flaniert ein internationales Publikum mit Stadtführer in der Hand und Fotoapparat um den Hals durch die Straße – die Bergmannstraße hat es in die Reiseführer geschafft und schickt sich an, den Szenemeilen von Prenzlauer Berg und Mitte Konkurrenz zu machen.
Tatsächlich gibt es viel zu entdecken. Statt Trödelläden prägen heute Geschäfte mit hübschen Dingen, die man nicht unbedingt braucht, die aber viel Freude machen, die Szenerie. Trendige Küchenaccessoires findet man und witzige Ansichtskarten, Geschenke speziell für den Herrn und selbstgemachte Hüte – wobei die Inschrift „Tabakwaren Willi Boos“ über dem letztgenannten Geschäft zeigt, dass es einst auch ein anderes, alltäglicheres Leben in der Straße gab.
Und dann die Gastronomie! Coffeeshops, Imbisse, Restaurants und Bars fast jeder denkbaren Richtung reihen sich aneinander. Das Café Milagro, 1990 eröffnet, wirkt schon fast wie ein Methusalem unter all den neu entstandenen Lokalitäten. Klassikerstatus genießt auch das Café Barcomi's, dessen aus den USA stammende Chefin Cynthia Barcomi nicht zuletzt dank Backbüchern, die sie in Kooperation mit dem Lebensmittelhersteller Schwartau vertreibt, prominent geworden ist.
Sichtbarster Ausdruck der „neuen“ Bergmannstraße ist die Markthalle am Marheinekeplatz. 2007 wurde sie nach einem grundlegenden Umbau wiedereröffnet, und seither gibt es hier statt Dosenbier und Currywurst Spezialitäten aus dem Mittelmeerraum, Fleisch aus artgerechter Haltung, Käse aus der Uckermark und Bio-Hokkaidokürbis zu kaufen. Zumindest am Sonnabend brummt das Geschäft, auch wenn unübersehbarer Leerstand auf der Galerie und im hinteren Bereich der Halle offenbart, dass das Konzept nicht ganz aufgegangen ist.
Dass der Umbau der Markthalle unter Anwohnern umstritten war, hat mit der Geschichte des Viertels um die Bergmannstraße und den Chamissoplatz zu tun. Widerstand gehört hier zum Selbstverständnis vieler Bewohner, von denen nicht wenige die Kämpfe der frühen achtziger Jahre selbst miterlebt haben. Damals stritten die Anwohner für den Erhalt der im späten 19. Jahrhundert errichteten Häuser, und friedlich ging es dabei nicht immer zu. „Vom Fenster unseres Gemeinschaftsraums aus sahen wir Tränengas und Wasserwerfer“, schreibt der Schriftsteller Matthias Frings, der damals am Chamissoplatz wohnte. „Hunderte Polizisten jagten die Demonstranten wie Kaninchen. Ich sah junge Frauen straucheln, und jeder Polizist, der an ihnen vorbeistürmte, versetzte ihnen einen Tritt oder Hiebe mit dem Schlagstock.“
Solche Szenen kann man sich heute kaum mehr vorstellen, so verträumt wirkt die südlich der Bergmannstraße gelegene Gegend um den Chamissoplatz. Der Kampf um die Rettung der Häuser war erfolgreich, und so bietet sich jetzt dem Flaneur in Arndt-, Willibald-Alexis- und Fidicinstraße der Anblick eines nahezu perfekt instand gesetzten Gründerzeitviertels mit viel Flair. Denkt man sich die geparkten Autos weg, fühlt man sich glatt um hundert Jahre zurückversetzt.
Kein Wunder, dass das einstige Studentenviertel heute zu den beliebtesten Wohnorten der Stadt gehört. Entsprechend teuer ist es hier geworden: Für eine Altbauwohnung in der Willibald-Alexis-Straße wird eine Kaltmiete von 10 Euro pro Quadratmeter verlangt, für eine renovierungsbedürftige Wohnung in der Bergmannstraße 8,30 Euro. Und ein Bauträger, der in der Kopischstraße, fast direkt am Chamissoplatz, einen Gründerzeitkomplex sanieren will, ruft für den für Berliner Verhältnisse enorm hohen Kaufpreis von 3.500 Euro pro Quadratmeter auf.
Trotz Sanierung und teurer werdenden Wohnungen ist dieser Teil Kreuzbergs eine Hochburg der Grünen geblieben. Das merkt man nicht nur an den Wahlergebnissen, sondern auch am Einkaufsverhalten. Seit 1994 findet auf dem Chamissoplatz jeden Sonn-abend ein Öko-Wochenmarkt statt, auf dem der anspruchsvolle Kunde Lammfleisch aus dem Spreewald, fair gehandelten Espresso und handgefertigte Besen erwerben kann. Aber auch der Supermarkt im neuen Ärztezentrum an der Bergmannstraße wetteifert mit seinem breiten Bio-Angebot  mit den beiden gut sortierten Bio-Supermärkten, die innerhalb kurzer Zeit am Marheinekeplatz aufgemacht haben.
Östlich vom Marheinekeplatz – dort steht die Passionskirche, in der regelmäßig Konzerte stattfinden – wird die Bergmannstraße deutlich ruhiger. Das liegt vor allem an den vier ausgedehnten Friedhöfen, auf denen so berühmte Persönlichkeiten wie der Dichter Ludwig Tieck, der Architekt Martin Gropius und der Kaufhausgründer Georg Wertheim begraben liegen. Geschichte ganz anderer Art hat ein unscheinbares Wohnhaus in der Schenkendorfstraße 7, fast direkt an der Bergmannstraße, geschrieben: In dessen Keller war 1975 der CDU-Politiker Peter Lorenz nach seiner Entführung fünf Tage lang im „Volksgefängnis“ der Bewegung 2. Juni eingesperrt.
Wer allerdings die Augen offen hält, kann auch die „alte“ Bergmannstraße noch entdecken – zum Beispiel im Leistenhaus Schlumm gleich um die Ecke in der Nostitzstraße. Das verkauft keineswegs nur Leisten, sondern ist eine Art Baumarkt im Kleinformat inklusive liebevoll handgeschriebenem Schild im Schaufenster:

Willst Du haben was auf Maß,
Komm zu Leisten Schlumm.
Der macht Dir das.

Ob sich dieses Relikt noch lange wird halten können?

Emil Schweizer
 

42 - Frühjahr 2010