Hymne für einen fast Unsichtbaren

Still und unaufdringlich hat er sich in den Alltag eingeschlichen und behauptet dort seine Qualitäten als Allroundassistent des modernen Menschen: der Hocker.

Mal dient er als  Ablagetisch für Notebook oder Buch; ein andermal als Schreibtischsitz für den rückenbeanspruchten Zeitgenossen – vom Barhocker ganz abgesehen. Kein Wunder, dass das Allzweck-Utensil zum Lieblingsspielzeug für junge Designer avanciert. Mal wird er aus Fäden gesponnen, mal aus PVC geformt oder schichtverleimt. Dabei muss der Ein- bis Vierbeiner mehr der Statik genügen als der Ergonometrie, so kann er einfach schön aussehen und zwischen derb behauener Skulptur und filigranem Raummarker changieren. Vielleicht gerade weil er das Wenige ist, mit dem sich große Wirkungen erzielen lassen, konnten die Designerin Eva Marguerre oder der Tischlergeselle Daniel Scherf mit ihren Kreationen Publikum und Fachleute zum Schwärmen bringen. Daniel Scherf baute einen zerlegbaren formverleimten Eichenfurnierhocker und folgt damit einer funktionalen Sprache. Für seine Arbeit erhielt er den Berliner Landespreis für Gestaltendes Handwerk 2009. Der „Nido“ der Karlsruher Designstudentin Eva Marguerre wiederum war der Star des vorjährigen Berliner Designfestivals und zieht seitdem als roter Faden durch die Medien. Er ist ein Neunhundertgramm-Leichtgewicht aus roten Glasfiberschnüren, den es in vier Wickelvarianten gibt. Der Nido ist ein emotionales Möbelchen. Es sei phänomenal, was dieses Höckerchen aushalten kann, sagt Magazin-Produktrechercheur Marcus Steber. Einhundertfünfzig Kilogramm – zwei Männer – trägt dieses Fadengespinst, das an Kinderspiele erinnert und dabei ein Hochdesign-Produkt ist, so ausgereift, dass es in Serie produziert werden kann.
Der Hocker als alltäglicher Gegenstand hat eine lange Geschichte. Sehr wahrscheinlich begann diese mit einem massiven Stein, der zum Verweilen einlud. Später erst kam der Stuhl, und alle namhaften Architekten und Designer kaprizierten sich auf diesen komplexen Sitzgegenstand. Der Hocker hielt sich parallel. Mit dem Vitra-Sammlungsleiter Serge Mauduit findet man die nach wie vor spannendsten bei den Klassikern des zwanzigsten Jahrhunderts: Die Erfindung der Stahlrohrmöbel begann 1926 mit dem Kufenhocker B9 von Marcel Breuer für die Bauhauskantine. Alvar Aaltos naturfarbener Buchenholzhocker (1930) ist nach wie vor populär. Max Bill und Hans Gugelot schufen mit dem Ulmer Hocker 1955 – quasi eine Holzbrücke, deren Versteifung zugleich als Trageholm funktioniert – eine Legende. Von diesen Vorgaben der ersten und zweiten Moderne bis zu den linearen Objekten oder weich geschwungenen Formen zeitgenössischen Designs (Hocker „Plopp“ aus aufgeblasenem Stahlblech von Oskar Zieta für die Firma HAY) gibt es eine große, bunte Familie des beiläufigsten aller Sitzmöbel.
Anita Wünschmann

42 - Frühjahr 2010