Die Welten des John Nash

Dem Sky-Café von Andel’s Hotel liegt Berlin gewissermaßen zu Füßen. Nach Westen der Blick zum Fernsehturm, in die City, nach Norden der in Richtung Hellersdorf, Marzahn und nach Osten der in die typischen angestammten urbanen Stadtbezirke Lichtenberg, Treptow, Kreuzberg.
Die Amerikaner, sagt die Dame vom Hotel, liebten den Ausblick nach Osten, das würde sie an ihre großen Städte erinnern. Auch John Nash  geht spät am Abend zu dieser Fensterfront und blickt ins schluchtige Lichtermeer. Ja, der John Nash, der Mathematiker, der das Nash-Gleichgewicht für nicht-kooperative Spiele entdeckt hat, der John Nash, der über 30 Jahre an Schizophrenie erkrankt war und dessen Schicksal Millionen aus dem Film „A Beautiful Mind“ kennen. Er ist heute 81 Jahre alt, geht langsam, gebeugt. Seine Hände sind schmal und schnell, wie die eines Pianisten, und wenn er  spricht, sprechen sie mit. Diesmal ist er nach Berlin gekommen, um an der Technischen Universität einem berufenen Juniorprofessor sozusagen die besondere Weihe zu geben. 
„Zum ersten Mal war ich 1958 in Berlin, Schönefeld, der kleine Flughafen, die Karl-Marx-Allee“, erinnert er sich. Hier wollte er eigentlich bleiben, bat wie in Frankreich und der Schweiz um politisches Asyl. Alle lehnten ab. Seine nur 27 Seiten umfassende Dissertation über die Spieltheorie, für die er 44 Jahre später den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekam, hatte er schon geschrieben. Er hatte schon einen Sohn, eine gescheiterte Beziehung und eine sich entwickelnde. War ein Einzelgänger, galt als fachlich brillant, aber auch als arrogant und sogar kindisch. Wenn man sich in einem Feld besser auskenne als alle anderen, dann fühle man sich automatisch überlegen, sagt er sinngemäß im Gespräch. Und in jener Zeit, Ende der 50er Jahre, begann er auch viele Menschen zu sehen, die rote Fliegen trugen und ihm irgendwie nicht normal vorkamen, denn sie arbeiteten nicht für die Armen. Er vermutete eine Art kommunistischer Untergrundorganisation. So vermischte sich die äußere Welt – denn in den USA tobte der McCarthy-Ausschuss, man hatte krankhafte Angst vor Kommunisten – und die innere Welt des John Nash, die bald als krankhaft diagnostiziert wird. Nash versteht sich als Arbeiter für den Frieden, schreibt Regierungen an und reist mit seiner Frau Alicia nach Europa, um sich ebenjene Abfuhren in Sachen Asyl zu holen, denn am liebsten würde er nicht nur hier leben, sondern seine Staatsbürgerschaft an die USA zurückgeben und „Weltbürger“ werden. Ja, ist das denn tatsächlich so verrückt? Nun, das waren die harmloseren Anfänge und Anfälle, die sich gut erzählen lassen. Die Krankheit hat dann allmählich von seinem Geist gelassen, das Genie hat wieder die Oberhand gewonnen. 
Leider ist die Krankheit in der Familie geblieben: Sein zweiter Sohn, ebenfalls Mathematiker, ist daran erkrankt.
John Nash erzählt, dass er auch heute noch jeden Tag in die Universität Princeton mit dem Zug fährt, um dort etwas für das Spieltheorieprojekt zu arbeiten, denn auch im Alter könnten Wissenschaftler, ähnlich wie Künstler, Sachen produzieren, die von Wert seien. Er wägt seine Worte und kommt immer schnell auf den Punkt. Vor allem der Film „A Beautiful Mind“ ist schnell abgearbeitet: „Es ist ein Film, keine Dokumentation.“ Und man hört  förmlich den Punkt, den er endlich hinter dieses Kapitel setzen will. 
In einem anderen Gespräch sagt er, dass er und seine Familie den Film  des Geldes wegen gemacht haben. Schließlich habe er nach Jahren ohne Einkünfte das Preisgeld für den Nobelpreis mit zwei anderen teilen müssen. Nun scheint er das Leben zu genießen, er reist viel, der früher Zugeknöpfte plaudert heute mit Wildfremden über sein Leben. 
Nach dem Essen trinkt er in der Sky-Bar noch einen Rotwein, schaut auf Berlin. Am Morgen war er mit seiner Familie, die ihn immer auf Reisen begleitet, im Einstein-Haus in Caputh. Albert Einstein gab ihm, dem  jungen Wissenschaftler, der eine Idee über die Ausdehnung des Universums entwickelt hatte, den Rat, dass er noch viel lernen müsse.
Martina Krüger


 

42 - Frühjahr 2010