Zurück zu den Anfängen

Vor hundert Jahren war Berlin eine der weltweit führenden Industriemetropolen. Doch nach der Wiedervereinigung brach die Industrie sowohl im Ost- als auch im Westteil der Stadt zusammen. Jetzt schickt sich die deutsche Hauptstadt an, ihre Kompetenzen erneut auszubauen – und dabei vor allem innovative Themenfelder wie Elektromobilität zu besetzen.


Es begann in einem Hinterhof in der Schöneberger Straße 19 in Berlin-Kreuzberg. Dort gründeten 1847 Werner Siemens und Johann Georg Halske ihre „Telegraphen-Bauanstalt“, wo zehn Arbeiter an drei Drehbänken vor sich hin werkelten. Binnen weniger Jahrzehnte entwickelte sich „Siemens & Halske“ zu einem weltweit führenden Industriegiganten – und stand damit unter den Berliner Unternehmen keineswegs alleine da. Da war zum Beispiel auch die Maschinenbauanstalt von August Borsig, die an der Chausseestraße in Mitte die Produktion aufnahm und sich dann in den Borsigwerken in Tegel ausbreitete; da war die ebenfalls in der Chausseestraße gegründete pharmazeutische Fabrik des Apothekers Ernst Schering, die heute unter dem Namen Bayer Schering Pharma weiterlebt; und da war die berühmte „Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft“ (AEG) von Emil Rathenau, die ab 1897 in Oberschöneweide ein ganzes Industrieviertel errichtete.
Schon lange ist Berlin keine Industriemetropole mehr. In den Jahren nach 1990 verlor die Stadt laut Industrie- und Handelskammer (IHK) mehrere hunderttausend Industriearbeitsplätze. Denn zahlreiche West-Berliner Fabriken verkrafteten den plötzlichen Entzug der Subventionen nicht, während sich die meisten Ost-Berliner Betriebe der Konkurrenz aus dem kapitalistischen Ausland geschlagen geben mussten. Berlin, so lautete um die Jahrtausendwende die vorherrschende Meinung, habe als Industriestandort keine Chance mehr und müsse das wirtschaftliche Heil im Dienstleistungssektor suchen.
Zwanzig Jahre nach der Vereinigung aber erlebt die Industrie eine Renaissance. Im Mai dieses Jahres beschlossen der Senat, die führenden Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften einen „Masterplan für die
Industriestadt Berlin“, der bis zum Jahr 2020 optimale Rahmenbedingungen schaffen soll.
Wirtschaftssenator Harald Wolf attestiert der Hauptstadt „exzellente Chancen auf Wachstum und Beschäftigung in nachhaltigen Technologien wie E-Mobility und Photovoltaik“.Unterstützung bietet die Unternehmensberatungsgesellschaft McKinsey. In einer Studie (Berlin 2020) machen die Berater Vorschläge, wie Berlin bis zum Jahr 2020 eine halbe Million sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze schaffen könnte. Neben dem bereits jetzt boomenden Tourismus sollten dabei nach Ansicht von McKinsey die Gesundheitswirtschaft, die Informations- und Kommunikationstechnik sowie die Elektromobilität im Vordergrund stehen.
McKinsey schlägt nicht nur vor, einen Modellversuch mit 100 000 Elektroautos durchzuführen, sondern betrachtet die Hauptstadt auch als geeigneten Ort für die Produktion von Lithium-Ionen-Batterien, welche die entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Elektroautos spielen. „Wenn es gelingt, einen wissenschaftlichen Forschungs- und Entwicklungscluster aufzubauen, sind die Chancen groß, dass mehrere Automobilhersteller und Zulieferer ihre Batteriezellenforschung und -produktion in der Region ansiedeln“, heißt es in der Studie. Einen geeigneten Standort für die Batteriezellenproduktion haben sich die McKinsey-Leute schon ausgeguckt: das Gelände des Flughafens Tegel. Ihr Vorschlag deckt sich mit der Absicht des Senats, das Areal nach der für Ende 2011 geplanten Schließung des Flughafens zu einem Forschungs- und Industriepark für Zukunftstechnologien zu entwickeln. „Berlin muss sich wieder verstärkt als Industriestandort profilieren“, heißt es auch bei der IHK Berlin. Um Branchen wie der Medizintechnik, der Biotechnologie und den sogenannten Green Technologies (insbesondere der Solarindustrie) gute Voraussetzungen zu bieten, müsse der Senat neue Industrieflächen ausweisen. In Marzahn soll bis 2012 ein „Clean Tech Business Park“ entstehen. Die Solarindustrie spielt in der Hauptstadt schon heute eine wichtige Rolle – zum Beispiel mit den beiden in Adlershof angesiedelten Unternehmen Sulfurcell und Solon. Der im Südosten der Stadt gelegene Technologie- und Wissenschaftspark Adlershof ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Industrie in Berlin wieder Fuß gefasst hat. Zwar sind auch in Adlershof nicht die großen Industriekonzerne ansässig, dafür aber fast 300 meist kleine, innovative Firmen, die an der Schnittstelle zur Wissenschaft arbeiten und nach Angaben der Standortgesellschaft Wista-Management selbst im vergangenen Krisenjahr ein Umsatzwachstum von drei Prozent verbuchen konnten.

Emil Schweizer
 

44 - Herbst 2010