Zur Nachahmung empfohlen

Ein Ausstellungsprojekt zur Nachhaltigkeit in den Weddinger Uferhallen

Der Wedding ist das Ruhrgebiet von Berlin, und so wie dort die Zechen im Wesentlichen stillgelegt worden sind, ist hier die einst ansässige Industrie samt ihren Arbeitsplätzen und klassischen Lebensläufen verschwunden. Essen ist mitsamt etlichen Ruhrstädten und Gemeinden die Kulturhauptstadt 2010. Die europäische Kulturinitiative soll bei der Umbewertung der einstigen Industrieregion helfen und neue Impulse für Lebensinhalte und Standortmarketing setzen. Der Kunstansiedelung im Wedding seit wenigen Jahren könnte die gleiche Aufgabe zugewiesen sein. Sie zieht Menschen mit neuen Ideen ins Revier. Sie ist ein quartierbelebender Spielplatz und fungiert nicht selten als Gentrifikationsbeschleuniger.
Man kann im Wedding spazieren und froh sein, vor Einbruch der Dunkelheit den Stadtteil in Richtung Mitte verlassen zu können. Man wird aber auch ganz im Gegenteil zu den Vorurteilen als Spaziergänger und Gelegenheitsbesucher angenehme Straßen finden und freundliche Menschen treffen. Oder man surft im Internet und entdeckt dann subversive Strategien, die Kunst sein könnten. Das liest sich so: www.esregnetkaviar.de/relaunch/abwertungskitneu.flv. „Sicher ist auch Ihnen schon aufgefallen, dass in Gegenden mit niedrigen Mieten viele Satellitenschüsseln die Fassaden schmücken, während in wohlhabenden Vierteln Derartiges nicht zu sehen ist. Machen Sie sich diesen Umstand selbst zunutze – montieren Sie eine Sat-Antenne an Ihre Fassade (oder drei oder vier). Faustregel: Je mehr Satellitenantennen, desto besser die Wirkung! Weiterhin gilt das balkonöffentliche Trocknen von Unterhemden als genügend abschreckend.“ So schön klug und mit echtem Berliner Charme versehen kann der Wedding sein, in dessen Uferhallen die Ausstellung Ästhetik und Nachhaltigkeit als „Expedition“ im Sinne einer kunstübergreifenden Zusammenarbeit arrangiert ist. Die Uferhallen, ein umgenutzter Gewerbehallenkomplex von beachtlicher Dimension, ist ein lebendiger Ort mit Künstlerateliers, Studios und Wechselausstellungen.
Die einstige Kultursenatorin Adrienne Goehler hat als Kuratorin 34 internationale Künstler in die große Maschinenhalle zur Ausstellung geladen, Künstler, die sich zum Teil seit Jahren bereits mit Technologietransfer, mit sozialen Initiativprojekten, mit Archivarbeit und anderen Konzepten auseinandersetzten, um Fragen zur Nachhaltigkeit über den Modegestus hinaus wahrnehmbar zu machen. Wenn sich etwas ändern soll, müssen neue Sichtweisen bis in die Kapillare der Gesellschaft eindringen. Und so selbstbewusst, wie jedes Ringen um Zukunft daherkommen muss, um überhaupt eine Chance zu haben, heißt es im Ausstellungsprogramm: „Die Expeditionen in Ästhetik und Nachhaltigkeit zeigen künstlerische Praktiken, die zur Erhaltung des Planeten beitragen und Einfluss auf bewusstes Konsumverhalten nehmen wollen.“
Man sollte die Ausstellung besuchen, die durch Vorhaben an weiteren Orten ergänzt wird, um sich vor allem hinsichtlich seiner eigenen Phantasiefreudigkeit selbst zu erproben, um seine Vorstellungen dahingehend zu erweitern, dass Zukünftiges originell und klein beginnt und eben doch anders als gedacht sein kann, dass, ehe Neues beginnt, das Vorhandene unter die Lupe genommen werden muss. Impulse dafür gibt zum Beispiel die gebürtige Berlinerin Christin Lahr, die seit 2009 täglich einen Cent an das Bundesministerium der Finanzen überweist und damit dem wachsenden Schuldenberg in „homöopathischen Dosen“ entgegenzuwirken versucht. In das Feld „Verwendungszweck“ schreibt
sie jeweils 108 Zeichen aus Marxens Kapital. Auf diese Weise wird das geschichtsträchtige Werk der „Kritik der politischen Ökonomie“ von Karl Marx per Online-Banking auf das Staatskonto bei der Bundesbank übertragen. Es dauert dreiundvierzig Jahre, bis der Texttransfer in Kopplung mit 15.709 Cent überwiesen worden ist. Die Arbeit versteht sich als „eine Schenkung an das ganze Volk, eingestellt in den Staatshaushalt der BRD, eingeschrieben in die Archive, verwaltet durch die aktuell gewählten Repräsentanten, sicher verwahrt bei der Bundesbank.“
Ursula Schulz-Dornburg, reiht in einer Fotoinstallation Weizensorten aus der Menschheitsgeschichte aneinander. Eine Polemik gegen die Reduzierung der Vielfalt zugunsten eines profitablen „Hybridweizens“.
Henrik Håkansson, gebürtig in Helsinki, verbindet in seinen Installationen Biologie mit Technologie. Sein künstlerischer Impuls aber mag im archetypischen Traum des Menschen liegen, in einen aktiven Dialog mit Vögeln und anderen Tieren treten zu können. Ein Signalverstehen über den menschlichen Kommunikationszusammenhang hinaus könnte – man hat es in Erdbebengebieten bereits erprobt – zur Rettung des Menschen beitragen, darüber hinaus aber auch ein tieferes Verständnis für die Welt ermöglichen. Für seine Beobachtungen nutzt Håkansson Überwachungskameras, High-Speed-Filme und Computerprogramme, um Motorik und Akustik aufzuzeichnen. Die Schaumstoffbaum-Installation „End of the Forest“ der israelischen Künstlerin Dina Shenhav (1968 in Jerusalem geboren) ist eine Anklage an die israelische Politik. Nach Angaben des palästinensischen Landwirtschaftsministeriums, so steht es im Katalog, wurden seit Beginn der 2. Intifada im Jahr 2000 über eine halbe Million Olivenbäume durch Bulldozer der israelischen Armee entwurzelt und damit nicht allein die Natur, sondern die Lebensgrundlage palästinensischer Bauern zerstört.
Otmar Sattel lässt mit einer Glas-Gras-Orgel Töne erklingen, indem er die Prozesswärme nutzt – der rauchende Heuhaufen, den jedes Landei kennt. So ertönt eine Zukunftsmusik, die sirenengleich zu neuem Nutzerverhalten biodynamischer Prozesse verführen kann.
Jeder Besucher kann Anteilscheine erwerben oder sich an Genossenschaftsprojekten beteiligen, um die Weiterentwicklung bzw. Realisierung von Erfindungen und Prototypen zu unterstützen.

Anita Wünschmann

Informationen

  • Zur Nachahmung empfohlen!
    Expeditionen in Ästhetik und Nachhaltigkeit
    Uferhallen, Berlin-Wedding
    bis 10. Oktober
     
44 - Herbst 2010