Sklaven des 20. Jahrhunderts

Eine beachtliche Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin erzählt erstmals die gesamte Geschichte dieses Verbrechens und seiner Folgen nach der Befreiung.

Diese Ausstellung ist ein Meilenstein der kollektiven Erinnerung, 65 Jahre nach Kriegsende und unvorstellbar kümmerliche zehn Jahre nach Beginn der Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus einem eingerichteten Fonds der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft. Im Zweiten Weltkrieg mussten in Deutschland und in den besetzten Gebieten insgesamt über 20 Millionen Männer, Frauen und Kinder aus ganz Europa als „Fremdarbeiter“, Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge Zwangsarbeit leisten. „Selbst im kleinsten Dorf hatte der Anblick von Zwangsarbeitern zum nationalsozialistischen Alltag gehört; kein anderes Verbrechen war auf einer derart breiten gesellschaftlichen Basis begangen worden wie das der Zwangsarbeit“, schreibt Dr. Jens-Christian Wagner im Begleitband der Ausstellung. Die Zwangsarbeit war von Beginn an Teil der rassistischen Gesellschaftsordnung des NS-Staates. Der Triumpf der propagierten „Volksgemeinschaft“ und die erniedrigende Zwangsarbeit der Ausgeschlossenen – beides gehörte zusammen und ist Abbild der konstruierten Hierarchie.
Der Ausstellungsbesucher erlebt die Darstellungen einzelner Schicksale, oft im Detail rekonstruiert, als Ergebnis weltweiter Archivrecherchen. Einzigartiges und bislang weitgehend unbekanntes Material wird gezeigt. Die überraschende Entdeckung gründlicher fotografischer Begleitung signifikanter Ereignisse, ermöglichte an vielen Stellen eine geradezu szenische Präsentation. So führen ganze Fotoserien den Besucher in die historische Erzählung des Einzelnen ein und beschreiben das Umfeld sehr genau. Mit diesem Fotomaterial arbeiten die Ausstellungsgestalter äußerst überlegt, beispielsweise mit dem Einsatz von Vergrößerungen im Raum und Vitrinen, in denen die Fotos nun im Originalformat, aber im Kontext weiterer Quellen gezeigt werden. Der Besucher wandelt durch dieses Geflecht der verstörenden Präsenz von Zwangsarbeit als Massenphänomen, als Gesellschaftsverbrechen und der späten Versuche einer Gerechtigkeit. Die Chronologie fünf einzelner Ausstellungsmodule führt seinen Weg.
Gezeigt werden Gewalt und Ausgrenzung vor dem Krieg. Die Mechanismen der gewaltsamen Ausgrenzung aus der „Volksgemeinschaft“ vollzogen sich häufig vor aller Augen im öffentlichen Raum. Arbeit adelte als Ehrendienst des erwählten arischen Volksgenossen und demütigte als niedere Zwangsarbeit des Minderwertigen.
Unter der Überschrift Radikalisierung, geht es um Zwangsarbeit im besetzten Europa. Selbsternannte „Herrenmenschen“ ließen „Arbeitsvölker“ für sich schuften. Der Wehrmacht folgten die Vertreter der deutschen Firmen. Arbeitsämter, meist die ersten deutschen Dienststellen in den besetzten Gebieten, organisieren die Zwangsarbeit. Brutale Sklaverei wurde ordentlich verwaltet. Die Angestellten der Arbeitsämter tragen eine militärisch anmutende Uniform. Im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion behandelte die deutsche Wehrmacht die Kriegsgefangenen als „slawische Untermenschen“. Zwangsarbeit in den Ghettos und Konzentrationslagern war für die meisten Juden, Sinti und Roma die letzte Station vor dem Tod.
Zwangsarbeit im Deutschen Reich ist Massenphänomen. Es trifft 13 Millionen Menschen, die eigens dazu verschleppt wurden. Das Reichssicherheitshauptamt sah in der Anwesenheit der vielen Ausländer vor allem „volkstumpolitische“ Gefahren für die deutsche „Blutsgemeinschaft“.
Das Modul Befreiung befasst sich mit der Aufarbeitung und den Folgen der Zwangsarbeit. Die Alliierten klagten im Nürnberger Prozess erstmals Zwangsarbeit als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ an. Die Brisanz verlor sich aber in späteren Anklagen. Daheim wurden die Rückkehrer aus Opferverbänden ausgeschlossen, dem Vorwurf ausgesetzt, für den Feind gearbeitet zu haben, und weiterhin als Menschen zweiter Klasse behandelt. Viele der sowjetischen Zwangsarbeiter, der Kollaboration beschuldigt, erwartete die Deportation in Straflager. Erst seit den 1970er Jahren begannen Bürgerinitiativen, den Fakt Zwangsarbeit in Deutschland in Erinnerung zu rufen. Aus einem gemeinsamen Fonds der Bundesregierung und der Wirtschaft erhielten ehemalige Zwangsarbeiter – infolge angestrebter Sammelklagen aus den USA gegen deutsche Unternehmen – seit 2001 Zahlungen. Von „Wiedergutmachung“ zu sprechen, ist unangemessen. Die meisten der ehemaligen Zwangsarbeiter erlebten die späte Anerkennung nicht mehr.
Gerechtigkeit steht für Zwangsarbeiter als wichtige Zeitzeugen unter einer internationalen Erfahrung und eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses. An Hörstationen trifft der Besucher auf die Erzählungen von zwölf Zeitzeugen. Das sind Ausschnitte aus Interviews des digitalen Zwangsarbeitarchivs. Es umfasst ausführliche Video- und Audiointerviews von etwa 600 ehemaligen Zwangsarbeitern aus 26 Ländern.
Mit der öffentlichen Intervention der Weimarer Künstlerin Anke Heelemann geht die Ausstellung aus dem Museum hinaus in den Alltag von heute. Zitate aus den Polen- und Ostarbeitererlassen kleben in U-Bahnwagen neben Fahrplänen und Warnungen vor Taschendieben. Die Anweisungen verwirren die Fahrgäste. „Jeder gesellige Verkehr mit der deutschen Bevölkerung ist verboten“ oder „Ausflugs-, Besuchs- und Vergnügungsreisen sind nicht zuzulassen“. In Kneipen zwischen den üblichen Flyern stecken Fotopostkarten. Sie gaukeln die Illusion von Normalität in der Gemeinschaft vor. Schaut der Betrachter genau hin, entdeckt er den Lagerzaun, die Barackentür im Hintergrund. Die zensierten, scheinbar harmlosen Postkarten an die ferne Familie kombiniert die Künstlerin rückseitig mit späteren Erinnerungsberichten an das erlittene Unrecht.
Historische Gruppenfotos auf Werbeflächen in U-Bahnhöfen ziehen Blicke der Wartenden an. Eine Tafel, einen beschriebenen Koffer haben diese Männer in der Mitte, darauf steht nicht der Vereinsname, sondern: „Sklaven des 20. Jahrhunderts“, „ohne Liebe“ oder „jene, die kein Weihnachten 1944 haben“.

Brit Hartmann

Ausstellung

  • „Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg“ im Jüdischen Museum Berlin
  • Vom 28. September 2010 bis 30. Januar 2011
  • täglich von 10 bis 20 Uhr, montags von 10 bis 22 Uhr
45 - Winter 2010/11