Kopfweiden, ein Theater und zweihundert Ziegen - Zollbrücke an der Oder

Hochwassermeldungen hielten in diesem Winter die flussnahen Städte und Dörfer in Atem. Die Deichwächter hatten zu tun. Zollbrücke liegt am breiten, zumeist schwer dahinfließenden Grenzfluss inmitten Europas. Die bange Zeit war Mitte Januar erst mal vorbei. Das Wasser floss ab. Wenngleich der Blick vom Deich atemberaubende Wasserflächen abmisst, ist fürs erste die Sorge gebannt. Das Frühjahr aber steht noch bevor.
Das Fünfhäuserdorf gleich hinter dem Deich empfängt seine Gäste mit Naturschönheit, Fachwerkgehöften, einem Deichrestaurant (geräucherte Forelle, Eisbeinsülze oder Mohnschecke) und dem Theater, das von massiven Eichenstämmen getragen wird. Damit nicht genug. Der einzige Ziegenhof ganz Brandenburgs von solch stattlicher Größe ist hier zu finden ebenso wie das alte Dammeisterhaus mit Museum und Kunsthandwerkerei. Nach dem letzten Hochwasser wurde es restauriert und leuchtet als Kleinod aus der Wiese.

Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern in „Accordion mystery“ [Foto: Theater am Rand]

Hält sich der Fluss in seinen natürlichen Grenzen, kann man auf der Deichkrone spazieren und Rad fahren oder auf den Uferwiesen lagern. Ein Flussblick-Picknick mit weißem Tuch inmitten von Butterblumen. Das Leben hier kann so schön sein wie ein hellblau hochgespannter Himmel. Man kann auch tiefgraue Tage erwischen, Wolken schwer wie Elefanten oder erleben, wie die Abendsonne hinter den Feuchtwiesen und Wassergräben unglaublich langsam verglüht. Zwischen der einstigen Ackerbürgerstadt Wriezen, dem Städtchen Bad Freienwalde und Frankfurt/Oder mit der Europa-Universität Viadrina erstreckt sich eine Liebhaberregion. Grenzland grenzenlos weit, fließend, unruhig veränderlich und immerwährend. Manche Dorfhäuser scheinen geradewegs in den Lehmboden, aus denen sie gemacht sind, zurückfallen zu wollen. Auf den Wegen nach Zollbrücke stehen ausreichend schiefe Katen, weil es unzureichend Arbeit gibt, um jedem Haus seinen Bewohner zu erhalten. Hie und da wird gebaut und saniert: Das Angerdorf Altletschin etwa steht unter Denkmalschutz. Es siedeln Handwerker, Landwirte und Künstler. Es kommen Städter und Nachbarn – und plötzlich, wenn man anfängt zu begreifen, schrumpft die Entfernung, die sich bei der ersten Anreise ins Endlose auszudehnen schien.
Man kann nach Zollbrücke fahren, wenn man Kopfweiden zählen möchte oder Reiher, Frösche oder Schafe oder eben die über zweihundert Ziegen – „Deutsche weiße Edelziegen“, die gerade, als das Winterwasser zurückwich, ihre zweihundert Zicklein ausgetragen haben, die auf allen vier Beinen zugleich in die Höhe springen. Der Ziegenwirt Rubin erzählt seine Lebensgeschichte und vom Durchhaltevermögen gegen den Vorschriftendschungel und produziert Ziegenmilch, Ziegenkäse, Ziegenfleisch. Es gibt eine Probierstube und Hoffeste (zu Ostersonntag und im Oktober).

links: Das Theater am Rand in Zollbrücke [Foto: Günter Linke] rechts: Aus dem Stück „Mitten in Amerika“ mit Tobias Morgenstern, Thomas Rühmann, Ursula Karusseit und Jens-Uwe Bogadtke (v. l.) [Foto: Helga Paris]

Hier, wo die Geschichte ihre Freuden und ihre Bitternis, auch ihre Hoffnung als Flussgemurmel vorträgt, zelebriert die Natur Schauspiel genug. Aber gerade hier hat sich das „Theater am Rand“ angesiedelt. Es gibt wohl kaum einen eindringlicheren Platz, um von Menschen zu erzählen, als diesen nahezu archaischen Ort fürs Dramatische in epischer Landschaft – Krähen als Chor. Betrachtet man das Gebäude gleich am Ortseingang, glaubt man einem Theatergolem aus Holz und Lehm zu begegnen, dem von Tobias Morgenstern und Thomas Rühmann Leben eingehaucht wurde. Seit 1998 gibt es das Theater. Der Musiker, Musikdramaturg und Akkordeonspieler Tobias Morgenstern hatte sich im Oderbruch nach einer stadtfernen Bleibe umgeschaut und schon in den Achtzigern das Zimmermanngiebelhaus erworben. Am Maxim-Gorki-Theater wiederum entstand die Freundschaft zum Schauspieler Thomas Rühmann, dem Martin Luther aus dem gleichnamigen DDR-Fernsehspiel von 1982. Rühmann (nein, kein Verwandter!) ist aus vielen Hauptrollen und Serien bekannt und wurde als Dr. Roland Heilmann aus der ARD-Produktion „In aller Freundschaft“ 2002 zum Serienliebling der Zuschauer gewählt. Die Theateridee nahm schnell Gestalt an: eine Wohnzimmerbühne, Zweimannbetrieb, selbstbestimmt. Akkordeonschluchzen, Sehnsüchte, Menschenwege, Fernweh und Langsamkeit, Clowneskes.
Im Programm finden sich Inszenierungen u.a. nach Sten Nadolny, Annie Proulx oder Alessandro Baricco. Es gibt Musikveranstaltungen und Debattenabende. Vom fernsten Winkel ging die stille Post ab. Der Golem wuchs: Jetzt steht auf schweren Stämmen ein Amphitheater, ein Rundbau auf Eichenhölzern, wie vom Wind zerzaust, aber widerständig. Zum Abschluss des Spiels wird gezahlt. Die Einladung liest sich so: „Wir muten Ihnen eine harte Entscheidung zu: Was ist Ihnen der Abend wert? Wie viel Zoll sind Sie bereit zu zahlen, wenn Sie die Brücke begehen zwischen hier oben und da unten, zwischen Publikum und Künstlern. Zwischen Ihrer Gegenwart und unserer Zukunft … Sie bestimmen den Preis. Zahlen Sie, was wir brauchen.“

Anita Wünschmann

Informationen
www.theateramrand.de

46 - Frühjahr 2011