Stadtteil mit Filmgeschichte

In diesem Jahr feiert der Berliner Stadtteil Weißensee ein doppeltes Jubiläum: Vor 700 Jahren wurde der Ort erstmals urkundlich erwähnt, und vor 100 Jahren begründeten die ersten Filmstudios den Ruf Weißensees als Klein-Hollywood. Grund genug für einen Ausflug in den Norden der deutschen Hauptstadt.

Hier soll Filmgeschichte geschrieben worden sein? So recht kann man das nicht glauben, wenn man an der unwirtlichen Kreuzung der Berliner Allee und der Liebermannstraße in Berlin-Weißensee steht. Und doch begann genau hier vor hundert Jahren eine Erfolgsgeschichte, die heute fast in Vergessenheit geraten ist: Innerhalb von 15 Jahren entstanden in Weißensee über 50 Filme, in denen Stars wie Emil Jannings, Marlene Dietrich und Asta Nielsen mitwirkten.Es begann vor genau hundert Jahren, als die Produktionsgesellschaft Vitascope ein Grundstück an der Franz-Joseph-Straße (heute Liebermannstraße) pachtete. Die Filmateliers drängten damals aus der Innenstadt an den Rand der Metropole, da die aufwändiger gewordenen Produktionen mehr Raum beanspruchten. Am 1. Oktober 1913 nahm in der heutigen Liebermannstraße 24–28 das erste Studio den Betrieb auf. Die damals errichteten Gebäude sind bis heute stehen geblieben; ein Bildhauer, ein Gewächshaus-Service und andere Gewerbetreibende haben sich darin eingerichtet. Einen Besuch an ebendiesem Ort beschrieb Kurt Tucholsky 1923 in einem Artikel in der „Weltbühne“. „Ich geriet als halbwegs vernünftiger Mensch von der Straße in Joe Mays Film-Atelier zu Weißensee – von der Straße, wo die Elektrische klingelte“, berichtete er. „Dann kam ein Zaun, ein kleines Haus, und das erste, was ich auf dem Filmhöflein sah und hörte, war Joe der Große.“ Mit diesem Spitznamen bezeichnete Tucholsky Joe May (eigentlich Julius Otto Mandl, 1880–1954), einen der führenden Produzenten und Regisseure der Weimarer Republik. Einige Meter von den damaligen Studios entfernt erinnert heute der Joe-May-Platz, eigentlich eher eine vernachlässigte Abstandsfläche, an den Impresario.

Gut möglich, dass Tucholsky bei seinem Besuch auch eine unbekannte Nachwuchsschauspielerin namens Marlene Dietrich über den Weg lief. Sie, die wenige Jahre später mit dem (allerdings in Babelsberg gedrehten) „Blauen Engel“ zum Star werden sollte, spielte 1923 in „Tragödie der Liebe“ – eben jenem Film, dessen Dreharbeiten Kurt Tucholsky verfolgte – eine ihrer ersten Filmrollen. Auf dem geschichtsträchtigen Areal erinnert heute nichts mehr an dieses Kapitel deutscher Filmhistorie, das bereits 1928 zu Ende ging. Danach übernahm die Wäscherei Ide die Ateliers in der Liebermannstraße (der Schriftzug ist noch immer über dem Eingang zu sehen). Das benachbarte Grundstück an der Berliner Allee, auf dem sich ebenfalls Studios befunden hatten, wurde mit Wohnhäusern bebaut. An einem von ihnen (Berliner Allee 249) erinnert eine Gedenktafel an die Bedeutung der Liebermannstraße für die frühe Filmindustrie.

Doch Weißensee feiert noch ein weiteres Jubiläum: Im Jahr 1313, also vor 700 Jahren, wurde das damalige Dorf erstmals in einer Urkunde erwähnt. Mit einer Reihe von Veranstaltungen begeht der Verein Weißenseer Heimatfreunde im Verlauf dieses Jahres das Jubiläum. Richtig Bewegung in den ursprünglich weit außerhalb Berlins gelegenen Ort kam allerdings erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Weißensee vom rasanten Wachstum Berlins erfasst wurde. Der Hamburger Kaufmann Gustav Adolf Schön erkannte das, erwarb das ehemalige Rittergut, parzellierte es und verkaufte es weiter. Bauträger und Makler haben auch heute wieder Weißensee im Visier. Denn vorbei ist die Zeit, als Weißensee als langweiliger Vorstadtbezirk galt. Vor allem das Komponistenviertel zwischen Berliner Allee und Jüdischem Friedhof (es heißt so, weil die Straßen nach berühmten Komponisten benannt sind) gilt mittlerweile als beliebter Wohnort, wo auch neue Immobilienprojekte geplant werden. Bereits vor einigen Jahren fertiggestellt wurden die Puccini-Hofgärten auf dem Areal einer ehemaligen Gummiwarenfabrik. Neu entstehen in der Gürtelstraße die Komponistengärten mit rund hundert Wohnungen. Bei vielen Maklern zählt Weißensee zu den aufstrebenden Wohnlagen. Um 20 Prozent seien 2012 die Preise für Eigentumswohnungen in Weißensee gestiegen. Als besonders attraktiv gilt dabei die Gegend am Mirbachplatz und am Kreuzpfuhl – und das nicht erst seit gestern: Um 1910 plante der Weißenseer Baurat Carl James Bühring am Kreuzpfuhl das Munizipalviertel, zu dem auch eine schmucke Häuserzeile in der Woelckpromenade gehört. Einige Schritte weiter erstreckt sich das in den 1920er Jahren errichtete Holländerviertel, das an das Holländische Viertel in Potsdam erinnert und mit großzügigen Innenhöfen bezaubert.

Wichtigste Attraktion des Stadtteils ist der Weiße See, der zu Spaziergängen und im Sommer zum Baden einlädt. Ohnehin sucht, wer sich in Weißensee niederlässt, weniger ein urbanes Umfeld mit Cafés und Unterhaltungsangeboten als vielmehr eine ruhige, grüne Umgebung. Trotzdem hat Weißensee auch kulturell einiges zu bieten – und da sind wir wieder beim Thema Film: Früher soll es allein am Antonplatz sieben Kinos gegeben haben. Eines davon ist noch in Betrieb: das Toni, das Regisseur Michael Verhoeven 1992 übernommen und dann durch einen kleineren Saal, das Tonino, ergänzt hat. Nicht mehr als Kino betrieben wird hingegen das wohl prächtigste aller Weißenseer Filmtheater: das Delphi in der Gustav-Adolf-Straße 2. Immerhin steht das Gebäude noch. Es gehört einem Veranstaltungsunternehmer und ist in der Regel leider nicht öffentlich zugänglich. Ganz in der Nähe begegnet man noch einmal der Filmgeschichte: Am Caligariplatz zeigt das Kino Brotfabrik anspruchsvolle Filme. Erst seit 2002 heißt der Platz so und erinnert damit an den Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“. Dieses expressionistische Meisterwerk aus dem Jahr 1919 entstand – genau – in den Filmstudios von Berlin-Weißensee.

Paul Munzinger

 

54 - Frühjahr 2013
Stadt