Bad Boy der deutschen Kunstgeschichte

Die „New York Times“ feierte ihn als „eines der größten Talente“. Seine Kunst war so extrem wie sein Leben. Dreihundert der ungewöhnlichen Werke Martin Kippenbergers zeigt die Nationalgalerie anlässlich seines 60. Geburtstages im Hamburger Bahnhof.

Nach der Retrospektive im Museum für Neue Kunst in Karlsruhe im Jahr seines 50. Geburtstages war nun nach genau zehn Jahren damit zu rechnen, dem künstlerischen Multitalent Martin Kippenberger erneut zu huldigen.Die Nationalgalerie tut das allerdings nicht mit einer weiteren Retrospektive, sondern mit der Ausstellung „Martin Kippenberger: sehr gut – very good“ im Hamburger Bahnhof, die „eine Annäherung an die private und öffentliche Person sowie den Künstler Martin Kippenberger“ verspricht, also vor allem die Symbiose von Persönlichkeit und Werk zeigen soll.

Tatsächlich präsentiert sie einen Künstler, der extremer nicht sein kann, seine künstlerische Kreativität mit seinem Leben so eng verknüpft hat, dass er nicht nur die eigene Krankheit, sondern am Ende auch noch seinen nahenden Tod künstlerisch verwerten musste. In zahlreichen Selbstporträts malte er sich zum Schluss erschöpft, aufgedunsen und stark gealtert, obwohl er keineswegs alt war. Mit 44 Jahren ist Martin Kippenberger 1997 gestorben.

Zu Lebzeiten einem größeren Publikum unbekannt, begann die Legendenbildung um den Künstler nach seinem Tod. Die „New York Times“ feierte ihn als „eines der größten Talente“. Heute gilt Kippenberger als bedeutendster Künstler seiner Generation, als einer der Protagonisten des 20. Jahrhunderts, und seine Werke erzielen auf dem Kunstmarkt Höchstpreise.

Gespeist wird die außergewöhnlich umfangreiche Schau im Hamburger Bahnhof – eingerichtet im Obergeschoss des Westflügels und in den Rieckhallen – von zahlreichen Leihgaben und Werken aus der Friedrich Christian Flick Collection, beispielsweise „Uno di voi, un tedesco in Firenze“, eine Ölbilderserie aus ursprünglich mehr als achtzig Bildern, von denen ein Teil jetzt in der Flick Collection beheimatet ist. In Florenz entstanden, wollte die Bilder damals niemand kaufen, sodass Kippenberger einige davon 1978 mit nach Berlin nahm und sie der „Paris Bar“ gegen lebenslange freie Bewirtung, zu der vor allem auch Alkohol gehörte, anbot. In Berlin hielt er sich zwar nur drei Jahre lang auf, hinterließ aber bleibende Spuren nicht nur in der Bar, auch als Mitinhaber des legendären Clubs SO36, Gründer von „Kippenbergs Büro“, in dem er seine eigene Kunst vermarktete, als Musiker der Band „Luxus“, als Schauspieler, Schriftsteller und Verleger. Er war eine Künstlerpersönlichkeit, die total aus der Norm fiel, voller Ideen und absurder Einfälle und für andere Künstler deshalb immer eine Art Kulminationspunkt. 1983 verlegte er seinen Hauptwohnsitz nach Köln, wo er etliche aufsehenerregende Ausstellungen inszenierte, neben stets langen Auslandsreisen. 1988 nimmt er schließlich an der Biennale in Venedig teil. Ein Jahr vor seinem Tod erhält er den Käthe-Kollwitz-Preis.

Später als „Bad Boy“ der deutschen Kunstgeschichte bezeichnet, wollte er zu Lebzeiten Künstler sein, ohne darauf zu verzichten, die Kunst auch immer wieder infrage zu stellen, sie neu zu erfinden oder ins Absurde zu rücken. Dazu gehörte beispielsweise, dass er sich selbst genussvoll inszenierte, zugleich aber ironisierte. Die „weißen Bilder“, die er von einem Kind beschreiben ließ, eine mehrteilige Installation im Obergeschoss des Westflügels sowie das Magazin „sehr gut. very good“ von 1978 waren denn auch für die Ausstellung titelgebend. Mit der Skulptur „Zuerst die Füße“ – in der Ausstellung sind gleich vier Exemplare davon zu sehen – 1990 entstanden, zeigte sich noch Jahre nach seinem Tod, wie umstritten der Künstler war und sicher heute noch ist. Während der Papst anlässlich der Ausstellung im Bozener Museum für moderne Kunst im Jahr 2008 darin eine religiöse Verunglimpfung sah und gegen das Kunstwerk protestierte, rechtfertigte das Museum die Skulptur lediglich als ein ironisches Selbstporträt des Künstlers nach dessen Alkohol- und Drogenentzug. So steckt ganz zwangsläufig neben der Originalität oft auch ein provozierendes und die Öffentlichkeit verschreckendes Element in seinen Arbeiten und Installationen, zum Teil an Joseph Beuys angelehnt, den er nach Kippenbergscher Manier natürlich umdeutete: „Jeder Künstler ist ein Mensch.“

Dass die Selbstdarstellung einen wesentlichen Teil seines Werkes ausmacht, ist für Kippenberger sozusagen immanentes Konzept, denn das eigene Leben und dessen künstlerische Verwertung bilden bei ihm eine Einheit, bedingen einander. Daraus entstand ein avantgardistisches, aber auch „unkategorisierbares Werk“. Man könnte ebenso sagen: Er war ein Künstler, dessen Leben ausschließlich in seiner Kunst Ausdruck und Sinn fand. Ansonsten trank er, unterhielt die Leute mit markigen Sprüchen, von denen etliche an den Wänden der Ausstellung zu finden sind, und verbreitete kreative Unruhe. „Auch Dummheit kann ja zur Kunst werden.“ Mit solchen für ihn typischen Sentenzen konnte er schließlich auch einer Legendenbildung nicht entgehen.
Die Ausstellung im Hamburger Bahnhof versucht, anhand von Gemälden, Zeichnungen, Skulpturen, Fotografien, Plakaten, Filmen, Musik und Klanginstallationen, Gedichten und Büchern sowohl die künstlerische Bandbreite seines Werkes als Maler, Installations- und Performance-Künstler, Bildhauer, Fotograf, Schauspieler und Schriftsteller aufzuzeigen als auch seiner Person als exzentrischer Zyniker, Provokateur, „Exhibitionist“, Entertainer und notorischer Trinker nahezukommen.

Reinhard Wahren

Information
Ausstellung
Martin Kippenberger: sehr gut – very good
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin
Erstes Obergeschoss, Hauptgebäude und Ost-Hauptgebäude
(historischer Übergang), Rieckehallen, 23. Februar bis 18. August 2013
Invalidenstraße 50/51, 10557 Berlin

54 - Frühjahr 2013
Kultur