Das lange Warten

Corona bremste den Sport weltweit aus. Von verpassten Gelegenheiten und Hoffen auf die Zukunft. Es herrschte noch völlige Dunkelheit, als Erlingur Richardsson am 11. März seine Haustür schloss. Der Isländer war blendender Laune, denn kurz zuvor hatte er als Trainer der Männer vom IK Vestmannaeyjar den nationalen Handball-Pokal gewonnen mit 26:24 gegen UMF Stjarnan. Mit der ersten Fähre setzte der 47-Jährige drei Tage nach dem packenden Finale von den kleinen Westmännerinseln aufs Festland über, um den Sieben-Uhr-Flug von Reykjavik nach Amsterdam zu schaffen. Als erfolgreicher Coach der niederländischen Nationalmannschaft stand für ihn in Magdeburg ein Länderspiel auf dem Programm gegen die deutschen Männer, die seit ein paar Tagen von seinem Landsmann Alfred Gislason betreut wurden.

„Von Amsterdam aus machten wir uns auf den Weg nach Dessau, wo wir ein Kurz-Trainingslager vor der Partie geplant hatten. Das waren sieben Stunden im Mannschaftsbus“, erzählt Erlingur Richardsson, der 2015 und 2016 die Füchse Berlin zu zwei Weltpokal-Triumphen geführt hatte. Kurz vor dem ersten Auftritt im Sportdress stoppte der Oranje-Verband die Übungseinheit wegen des Corona-Virus. Das Länderspiel, welches kurzfristig ohne Zuschauer – das Match war seit Wochen ausverkauft – doch noch ausgetragen werden sollte, blies Amsterdam ab. „Es gibt derzeit Wichtigeres, als in einer Halle Ball zu spielen“, übermittelte man den da noch vergnatzten deutschen Gastgebern.

Die Holländer drehten ihren Bus in Richtung Heimat um und ihr isländischer Trainer, für den ein Flug von Berlin nach Reykjavik für den Tag nach dem nun ausgefallenen Spiel gebucht war, kehrte ins Hotel zurück. Am Freitag holte er das nach Dessau verlegte Treffen mit einem befreundeten deutschen Pressemann nach, tuckerte mit dem Zug gen Berlin, dort übernachtete der frühere Füchse-Trainer in der alten Heimat. „Kein Training, ein Mannschaftsessen, tausende Flugkilometer – für nichts“, konstatierte er. Nach der Ankunft auf den Westmännerinseln saß Erlingur Richardsson eine zweiwöchige Quarantäne ab. „Keine Angst, ich bin okay, aber in Island wird das auch sehr streng gehandhabt“, mailte er nach Ablauf dieser Frist.

Da hatten sich die Ereignisse auf dem europäischen Festland längst überschlagen. Sportveranstaltungen wurden grundsätzlich untersagt, Stadien, Hallen und sogar Spielplätze geschlossen, das normale Training verboten. Meisterschaften gingen als vorzeitig beendet oder annulliert in die Annalen ein, viele Sportler mussten eine Quarantäne absitzen. Profiklubs verordneten ihren Stars Kurzarbeitergeld. Die Fußball-Europameisterschaft wurde ins nächste Jahr verschoben, sogar erstmals auch in ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte die Olympischen Spiele. Mit Wimbledon fiel zum ersten Mal seit den Kriegswirren das heiligste aller Tennisturniere ersatzlos aus.

Diese Donnerschläge auf sportlichem Gebiet fütterten die Medien in jener Zeit, in der kein Sport getrieben wurde. Die auf Sport spezialisierten Fernsehsender lebten ausschließlich von Konserven. Es sind aber die Einzelschicksale, die das Corona-Frühjahr so plastisch machen. Wie das von Erlingur Richardsson. Oder das von Marcel Eckhardt.

Der 30-jährige Student verdient sein Geld als Schiedsrichter im Snooker und stand erst Anfang Februar beim 156. Maximum-Break der Geschichte durch Kyren Wilson in Cardiff am Tisch. Sein Traum war es, bei der stets Mitte April beginnenden WM in Sheffield als jüngster Unparteiischer ein Finale zu leiten. „Die Verschiebung der Weltmeisterschaft macht sich natürlich bemerkbar; das ist schon ein sehr entscheidender Teil des jährlichen Einkommens in unserem Sport. Die Hoffnung ruht aktuell darauf, dass ‚verschoben’ nicht auch ‚aufgehoben’ heißen muss“, erklärt der Wahl-Berliner am Telefon. In ein wirtschaftliches Loch glaubt der gebürtige Thüringer jedoch nicht zu fallen. „Mein Honorar für den März habe ich noch bekommen, jedoch wird es das für die nächsten Monate gewesen sein. Finanziell sehe ich mich für die kommenden Monate dennoch gut aufgestellt, da ich mich in der Vergangenheit sehr konsequent an allgemeinen Faustregeln orientiert habe, was die privaten Rücklagen betrifft – hier muss ich mir glücklicherweise keine Gedanken machen. Allerdings bin ich mir bewusst, dass das nicht jeder tat oder überhaupt dazu in der Lage war. Im Kollegenkreis sind mir erste Klagen bekannt geworden.“

Marcel Eckardt rechnet damit, dass Snooker relativ schnell wieder im Programm steht, wenn das Virus unter Kontrolle ist. Live-Übertragungen seien dann gut geeignet, vielen Menschen den Weg zurück in die Normalität zu ebnen. „Trotzdem mache ich mir Gedanken, was passiert und wie es weiterlaufen könnte, wenn die ganze Sache noch länger dauert, als wir aktuell befürchten. Ohne Zweifel kann es derzeit nicht darum gehen, an sportlichen Wettkämpfen festzuhalten; das haben alle verstanden – andere Dinge zählen da richtigerweise mehr. Dennoch ist ein bisschen Angst dabei, was die vielen, vielen Einzelschicksale betrifft.“

Notgedrungen hat sich der Student der Politikwissenschaften, Verwaltungswissenschaften und Soziologie in Berlin mit der Situation abgefunden. „Ich zähle mich zu der Gruppe, die bis auf die wöchentlichen Einkäufe zu Hause bleibt. Beschäftigung habe ich genug: Da ist natürlich mein Fernstudium, in welches ich nun deutlich mehr Zeit investieren kann. Aber auch in der Wohnung habe ich mittlerweile Sachen entdeckt, die es zu erledigen gilt, die man bisher sehr weit hinten angestellt hatte. Da die WM ja immer im April beginnt und bis in den Mai hineingeht, freue ich mich aber auch darauf, den richtigen Frühling mal zu Hause zu erleben. Normalerweise verschwinde ich nach Sheffield, wenn hier die ersten Knospen zu sehen sind, und wenn ich wiederkomme, ist alles komplett grün. Wir haben eine relativ große Dachterrasse, wo es viel zu tun gibt und wo ich in den nächsten Wochen sicherlich viel Zeit verbringen werden kann. Ein Traum wäre derzeit natürlich ein eigener Billardtisch zu Hause – das Spiel vermisse ich mittlerweile schon sehr.“

Erlingur Richardsson und Marcel Eckardt haben noch in relativ ruhigen Zeiten die Heimat erreicht. Adrie de Vries schaffte das erst kurz vor dem Abpfiff – um in der Sportsprache zu bleiben. Der Jockey aus den Niederlanden, seit vielen Jahren gern gesehener und erfolgreicher Gast auf der Rennbahn Hoppegarten, machte sich große Hoffnungen auf einen Erfolg in den Millionen-Wettbewerben um den Dubai-Cup am letzten März-Wochenende „Leider wurde der kurzfristig doch noch abgesagt. Für die Godolphin Mile war mein Pferd The Soldier Favorit.“

Die Absage kam aber gerade noch rechtzeitig. Wer weiß, wie lange der 50-Jährige sonst im Orient hätte auf eine Heimflug-Gelegenheit warten müssen. „Ich hatte großes Glück, noch rauszukommen. Kurz nachdem der World Cup abgesagt war, wurde den Ausländern mitgeteilt, dass sie das Land innerhalb von 48 Stunden verlassen müssen, ansonsten könne eine Ausreise auf unbestimmte Zeit nicht mehr garantiert werden“, erzählt der Champion von 2014, der vor zwei Jahren auf Rennpferd Weltstar das deutsche Derby gewinnen konnte. „Da ich den ganzen Winter in Dubai verbringe, hatte ich eine Menge zu packen und in diesen Zeiten einen Flug zu buchen, war Stress pur. Aber irgendwie hat es hingehauen. Ich habe noch einen Platz im letzten Direktflieger nach Holland bekommen.“

Bevor der 13-malige Champion der Niederlande an seinen Arbeitsplatz bei der deutschen Trainerin Yasmin Almenräder zurückkehren konnte, saß er aus freien Stücken eine zweiwöchige Quarantäne in der holländischen Heimat ab. „Ich war im Flieger und am Flughafen natürlich mit einigen Menschen in Kontakt, aber ich hatte keine Symptome. In der Zeit habe ich aber inständig gehofft, dass das normale Leben so schnell als möglich zurückkehren möge“, spricht er eine Sehnsucht aus, die Mitte April wohl alle Menschen in sich trugen.

Hans-Christian Moritz

 

82 - Frühjahr 2020
Sport