Auch für die Premieren-Saison des 1. FC Union in der Fußball-Bundesliga hat Corona sein Kapitel geschrieben. Doch dem Virus wurde nicht die dickste Tinte zuteil. Denn der Klassenerhalt des sensationellen Aufsteigers aus Berlin war bereits in trockenen Tüchern, als die Pandemie den Sport in aller Welt durcheinanderwirbelte. Die erfolgreiche Debüt-Saison unter dem bis dato namenlosen Schweizer Trainer Urs Fischer spülte Neuerscheinungen auf Papier und Zelluloid in die Bücherläden, die Mitgliedern, Fans und Gönnern für eine Gabe unter dem Weihnachtsbaum seit Wochen empfohlen werden. Um den Kauf muss den Machern nicht bange sein.
Die Fan-Kultur des Fußball-Clubs aus dem Südosten Berlins gilt als fast einzigartig und ist höchstens vergleichbar mit dem eng befreundeten Hamburger Verein FC St. Pauli. Ohne seine Anhänger wären die Köpenicker niemals in der Bundesliga, würden wohl als unbedeutende Provinzmannschaft kaum beachtete Punkte in einer schmucklosen Arena sammeln. Das Stadion nämlich ist das bauliche Aushängeschild des Vereins. Das Stadion an der Alten Försterei feierte in diesem Jahr sein hundertjähriges Bestehen und ist mit den Fußball-Anhängern mehr verbunden als jedes andere Stadion in Deutschland. Deshalb gestaltete der 1. FC Union einen Videoclip, der in einer Minute jene 100 Jahre seit der Einweihung einzufangen versucht.
An jenem 7. August 1920 empfing der damalige SC Union Oberschöneweide im neu erbauten Sportpark Sadowa den amtierenden deutschen Fußballmeister 1. FC Nürnberg. Die Gastgeber, damals noch in den an die Arbeiterkluft der Schlosserjungs angelehnten traditionellen blauen Trikots antretend, unterlagen den Franken ehrenvoll mit 1:2. Viele der damals rund 7 000 Zuschauer bestaunten die schöne neue Spielstätte, denn die Ursprünge des Fußballs in Köpenick sahen weniger beschaulich aus. 14 Jahre zuvor hatten Schüler und Lehrlinge in der Nähe den FC Olympia Oberschöneweide gegründet und markierten mit teils selbst gebastelten Utensilien einen Platz, wo sie ihre Partien austragen konnten. Nach den Spielen trugen sie brav ihre Torlatten, Pfosten und Netze ins Vereinslokal zur Aufbewahrung zurück. Weil der Fußball aber immer mehr Freunde gewann und in Berlin die Punktspiele zunahmen, wollten die gerade zum Stadtmeister gekürten „Blauen Jungs“ des inzwischen umbenannten SC Berlin Oberschöneweide ein eigenes Stadion, das dann sogar in der Vereinssatzung festgehalten wurde. Paragraf 170 erwähnte einen Fonds, aus dessen Mitte die Instandhaltung und Verbesserung der Sportplatzanlagen zu bestreiten waren. Der Name rührte daher, weil die Wuhlheide damals Sadowa genannt wurde. Allerdings gehörte die Arena der Stadt Berlin, stolz führte der Fußballverein jedoch den Namen des gepachteten Stadions auf dem Briefkopf. Es folgten viele Umbauten und Entfremdungen. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs stand eine Flakstellung zur Flugabwehr auf den Trainingsplätzen.
In den Jahren der DDR war der Club von den Fans heiß geliebt, von den Partei-Oberen kalt liegengelassen. Stasi-Chef Erich Mielke fürchtete sich als glühender Anhänger „seines“ BFC Dynamo so sehr vor dem Stadion in der Wuhlheide, dass er nach einer 0:1-Niederlage seines Vereins die Orts-Derbys komplett in das heute mittlerweile abgerissene Stadion der Weltjugend im Stadtteil Mitte verlegen ließ. Die größte Sensation jener Zeit war der Pokalsieg der Unioner 1968. Der krasse Außenseiter besiegte am 9. Juni im Finale von Halle den gerade zum Meister gekürten und mit Nationalspielern gespickten FC Carl-Zeiss Jena mit 2:1. Den verdienten Start im Europapokal allerdings verdarb den Berlinern wiederum die Politik durch die Nachwirkungen des „Prager Frühlings“.
Mehr als 30 Jahre danach waren die treuen Fans mit verantwortlich dafür, dass die Europacup-Premiere nachgeholt werden konnte. Auf dem Weg ins Endspiel um den DFB-Pokal besiegten die seinerzeit drittklassigen Köpenicker die übermächtigen Profis von Borussia Mönchengladbach – und das, nachdem die Begegnung wegen gewaltiger Schneemassen auf dem Platz Anfang Februar 2001 abgesagt werden sollte. „Aber nicht mit uns!“, riefen die Anhänger und schippten am Vormittag der Partie die Grasnarbe so weit frei, dass dem Schiedsrichter die Ausrede der Unbespielbarkeit des Platzes verwehrt wurde.
Ja, die Anhänger und ihr Stadion. Ab 2. Juni 2008 trugen die Unioner ihre Heimspiele freiwillig im Friedrich-Ludwig-Jahr Sportpark im Stadtbezirk Prenzlauer Berg aus. Grund: Die freiwilligen Helfer sorgten dafür, dass die Tribünenreihen neu betoniert, neue Treppen eingezogen wurden, der gesamte Stehplatzbereich überdacht und eine erforderliche Rasenheizung installiert wurde. Nach einem Jahr konnte das Stadion wieder bezogen werden, mehr als 2 000 tatkräftige Union-Mitglieder hatten in rund 140 000 Arbeitsstunden eine Meisterleistung vollbracht. Vier Jahre danach änderte der gesamte Sportkomplex in der Wuhlheide erneut das Gesicht und wurde von freiwilligen Aufbauhelfern modernisiert und den Verhältnissen für den erträumten Bundesliga-Aufstieg angepasst. Mit einem Freundschaftsspiel gegen Celtic Glasgow wurde die 23,5 Meter hohe und über 100 Meter breite Haupttribüne im Juli 2013 eingeweiht. Die schmucke Fußball-Arena bietet gegenwärtig Platz für mehr als 22 000 Zuschauer.
Mit den Stadien von Vereinen, die den Unionern alles andere als freundlich gesinnt sind, haben es die Köpenicker Fans allerdings nicht so. Da stehen sie unnachgiebig zu ihrem Club, auch wenn er in der politischen „Wendezeit“ von einem Lizenzentzug zum nächsten Konkursantrag stolperte, sich aber immer wieder berappelte. So verfolgten die Wuhlheider Anhänger einst zu Tausenden das Punktspiel beim verhassten Stadtrivalen Tennis Borussia von den Wallen außerhalb des Stadions und verkündeten zum gesparten Eintrittsgeld: „Keine Mark den Millionarios!“. Übrigens: Das gesamte Geld in fünfstelliger Höhe haben alle Unioner in einen Fonds für die Jugendarbeit des Vereins eigezahlt. Grund für die Aktion: Tennis Borussia hatte eine gefälschte Bankbürgschaft der Köpenicker gepetzt und sich damit den Aufstiegsplatz des Rivalen erschlichen.
Da ist das eigene Stadion wie die eigene Wohnstube. Diesen Slogan wandelten die Köpenicker sogar fast wörtlich um. Bei der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien verfolgten die Anhänger Spiele der deutschen Nationalmannschaft auf einer riesigen Leinwand. Auf dem Rasen ihres Stadions saßen sie auf heimischen Sofas, die sie aus dem Wohnzimmer in die Arena geschleppt hatten. Die reservierten Plätze dafür waren sofort nach Bekanntwerden der einmaligen und medienwirksamen Aktion ausverkauft. Und dass böswillige Fremde eines Nachts wenige der Sitzmöbel stahlen oder demolierten, schweißte die Köpenicker nur noch mehr zusammen.
Selbst Weihnachten zieht es einen richtigen Unioner in die Wuhlheide. Am Weihnachtssingen einen Tag vor Heiligabend teilzunehmen, ist für die Fans Pflicht, selbst wenn die allermeisten von ihnen bekennende Atheisten sind. Das Ereignis ist zu einem im Fernsehen live übertragenen Medienereignis geworden, für das Eintrittskarten an die Sänger verkauft werden. Trotzdem sind die 28 500 Tickets in jedem Jahr sofort vergriffen.
Hans-Christian Moritz