Die Gefahr der Sinnentleerung durch Reduktion

Berlin vis-à-vis sprach mit Marc Kocher über Architektur und Städtebau. Der Zürcher Architekt Marc Kocher unterhält seit 2012 ein Büro mit acht Mitarbeitern in Berlin. Mit seinen Entwürfen hat er maßgeblich zum Bild der Stadt beigetragen. Kocher plädiert für eine lebensbejahende, offene und nicht dogmatische Architektursprache. Neben Kenntnissen von Literatur und Kunst hält er das freie Zeichnen für einen wichtigen Bestandteil bei der Entwicklung von Bauwerken.

 


Marc Kocher, 54, wird zu den Vertretern des Neuen
Urbanismus gezählt [Foto: fotografa]

Herr Kocher, wie beurteilen Sie die architektonische Entwicklung von Berlin in den letzten 25 Jahren?

Keine andere europäische Metropole verfügt über eine vergleichbare neuzeitliche Entwicklung mit ähnlichen bedeutenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen innerhalb der letzten vergangenen Jahrzehnte. Es gibt aus diesem Grund auch – zum Glück! – kein einheitliches architektonisches Stadtbild. Die jüngste Vergangenheit zeigt eine offene, vielfältige, moderne und diskussionsfreudige Gesellschaft, die innerhalb der letzten Jahre positiv einer vielfältigen und neuzeitlichen Architekturauffassung gegenübergestanden ist.

Besteht die Gefahr, dass das Stadtbild Berlins zukünftig eher von Uniformität als von Vielfalt geprägt sein wird?

Gerade in Berlin habe ich die Befürchtung einer Vereinheitlichung oder Uniformität nicht. Das Stadtbild hat verschiedene Felder hinterlassen, an denen sich die Architekten von heute abarbeiten können: die gründerzeitliche Baustruktur und ihre Ergänzungen und Sanierungen, die Plattenbauten und Siedlungen der Nachkriegszeit, die Monumentalbauten und natürlich die vielen Grünzüge und Brachen, die in dieser Stadt eine besondere Aufmerksamkeit verdienen.

Sie haben mit Ihren Entwürfen das Erscheinungsbild Berlins mitgeprägt. Zum Beispiel mit der Entwicklung des Wohnhauses an der Jablonskistraße, dem „Entree Weißensee“ oder dem „Fellini Residences“. Was macht ein Bauprojekt erfolgreich?

Die Visionen eines Bauherrn und des Planerteams müssen in sich verschmelzen. Die Nachbarschaft muss von einer Neubebauung profitieren können, und die zukünftigen Bewohner sollten sich – jeder auf seine Weise – mit dem Gebäude identifizieren können und ihre Träume ausleben können. Das kann nur mit einer lebensbejahenden, offenen und nicht dogmatischen Architektursprache gelingen.

Auch die Backfabrik mit ihrem Ensemble aus unterschiedlichen Gebäuden und Stilen ist heute ein markanter Ort mit Wiedererkennungswert. Wie groß war ihr Gestaltungsspielraum bei der Planung?

Die Backfabrik wurde im Jahr 2001 in dieser Form fertiggestellt und hat sich bis heute als Startup-Schmiede gehalten. Junge und kreative Firmen mögen die Atmosphäre und die Lebendigkeit der Architektur, die weithin leuchtende Lichtskulptur, die Hofgestaltung mit der Freiluftdusche in Form eines Brunnens, die Andersartigkeit. Jeder kann sich auf andere Weise mit dem Gebäude identifizieren, weil keine einheitliche und uniforme Richtung vorgegeben wurde, sondern eine vielfältige und kreative Umgebung für arbeitende Menschen geschaffen wurde. Der Bauherr wünschte dies und insofern entspricht das Resultat der Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten. Und wenn die Zielrichtung zwischen allen Beteiligten geeint ist, wird auch der Gestaltungsspielraum immens und strahlt wie am Beispiel der Backfabrik weit über die eigenen Grenzen hinaus.

Architektur muss Funktionen erfüllen und hat einen ästhetischen Anspruch für den Betrachter. An welcher Stelle würden Sie eher einen Kompromiss machen: bei der Optik oder der Nutzbarkeit?

Die Nutzbarkeit ist die wichtigste Voraussetzung, um eine Gestaltung beinhalten zu können. Gebrauchsgegenstände wie auch Architektur bergen ja ihren inneren Sinn in ihren Gebrauchsmöglichkeiten. Die Moderne hat aber gezeigt, dass eine reine Reduktion auf die Visualisierung der Funktion mit einer Sinnentleerung einhergeht und deshalb von unserer Gesellschaft immer weniger akzeptiert wird – auch wenn nach wie vor diese Haltung von Ewiggestrigen und von der strengen Architektengilde erfolgreich in den Medien verteidigt wird. Wobei ich einverstanden bin, dass viele Errungenschaften der Moderne weiterhin ihre Bedeutung haben. Nur der kulturelle Schatz, aus dem wir mit unserem Büro schöpfen, um einer Nutzung eine Gestaltung zu verleihen, kennt keine Grenzen und Verbote.

Viele Menschen finden eine alte sanierte Architektur attraktiver als Neubauten, weil diese weniger einladend erscheinen oder zu eintönig sind. Was können Stadtplaner und Architekten tun, damit die Bewohner und Besucher sich in der Stadt wohlfühlen?

Lernt aus der Geschichte und bleibt tolerant und versucht, die Menschen als freie Individuen mit verschiedensten Bedürfnissen zu verstehen und nicht als Teil eines belehrenden gesellschaftlichen und architektonischen Willens. Viele Architekten, die selbst im Altbau wohnen oder arbeiten und sich dort wohlfühlen, sollten ihre Gefühle ernst nehmen und auf ihre eigene Tätigkeit übertragen.

In Berlin läuft seit Jahren die Hochhausdebatte. Wie viele Wolkenkratzer verträgt eine Stadt wie Berlin?

Verdichtung im Citybereich ist ein wichtiger Ansatz, um eine Zersiedelung im Umland zu vermeiden. Die das Stadtbild prägenden Grünzüge sind ebenso zu erhalten. Also bleibt nebst den ergänzenden Maßnahmen, wie Verdichten der bestehenden Strukturen, das Bauen in die Höhe, was am richtigen Ort auch ein guter Ansatz wäre. Aber auch dieser Ansatz wird dem immensen Wohnungs- und Gewerbedarf in der nächsten Zeit nicht gerecht werden. Es wäre eine unrealistische Anzahl an Türmen notwendig, gegen die dann zu viele sensible Nachbarschaften protestieren würden. Ich sehe eine Lösung nur darin, mit einer kräftigen öffentlichen Verkehrsergänzung das Umland stärker einzubinden, wobei Brandenburg hierfür die Hoheit behalten sollte und in einem partnerschaftlichen Verhältnis zur Stadt Berlin und zur Deutschen Bahn die Bereiche entwickeln könnte.

Sie zählen sich zu den Vertretern des Neuen Urbanismus und verbinden zeitgemäßes Bauen mit den Elementen der klassischen europäischen Stadtarchitektur. Was genau bedeutet das und was heißt das für Ihre Entwurfsarbeit?

Der Neue Urbanismus lehnt sich gegen die Funktionsstadt auf und steht für eine Durchmischung von Wohnen und Arbeiten, für Fußgängerzonen und menschliche Maßstäbe in der Architektur.

Sie haben an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich studiert, die höchstes Ansehen geniest. Was haben Sie aus dieser Zeit für Ihren Beruf mitgenommen?

Noch während meines Studiums an der ETH-Zürich habe ich nach einem Ausweg aus der gängigen vorherrschenden Lehrmethode gesucht. Ich konnte dem kleinkarierten Entwerfen von Punkthäusern, Riegelhäusern, Rastern oder Modulbauweisen nichts abgewinnen und zweifelte an meiner Berufsbestimmung. In der vorgeschriebenen Praktikumszeit nach dem zweiten Jahr wollte ich in keinem Fall in einem Architekturbüro in Zürich versauern. Ich wurde gerade 21 Jahre alt und beschloss, auf eigenes Risiko für ein halbes Jahr nach Rom zu fahren, die Stadt zu erkunden und Veduten zu erstellen und mir anschließend die Arbeit von einem der ETH-Professoren akkreditieren zu lassen – was auch gelang. Ich konnte in diesem halben Jahr meine zeichnerischen Fähigkeiten ausbauen, darüber hinaus innerhalb der Künstlerkolonie auf der Piazza Navona meine Zeichnungen an Touristen verkaufen und davon leben. Diese Erfahrung hat mich zutiefst geprägt und mich an die wirklich Großen der italienischen Renaissance herangeführt. Diesen Schwung habe ich genutzt und mich bei Aldo Rossi in Mailand erfolgreich beworben.

Sie haben dann in Ihren Anfangsjahren im Büro von Aldo Rossi gearbeitet. Wie sehr hat Sie der große Baumeister geprägt?

Schon während des Studiums bin ich am Wochenende zwischen Zürich und Mailand gependelt und konnte schließlich nach Erhalt des Diploms bei ihm als Juniorpartner einsteigen. Ich habe ein Büro kennenlernen dürfen, das nicht vor der ganzheitlichen Geschichte haltmacht, die Errungenschaften der Moderne kritisch weiterführte und mir eine enorme Weitsicht vermittelte. Das Zeichnen wurde von Aldo Rossi vorgelebt.

Wie wichtig ist das Zeichnen und heute für Ihre Arbeit?

Architekturzeichnung und die gebaute Architektur gehen eine Symbiose ein und sind dennoch zwei autarke Bereiche. Auch die Zeichnung genießt den Fortbestand und ist unumgänglich, um das innere Wesen der Architektur zu beschreiben. Ebenfalls hatten Kenntnisse der Literatur und das Schreiben für Aldo Rossi eine wichtige Bedeutung. Sie werden ebenfalls in die Gedanken mit einbezogen. Bis heute schöpfe ich aus literarischen Ansätzen, um meine Entwurfsideen zu denken und zu beschreiben. Den Reichtum der Sprache übertrage ich auf die Sprache der Architektur. Denn ich bin mir sicher, dass sprachbegabte Architektur ein erfolgreicherer Ansatz ist als eine ausschließliche Reduktion aufs Wesentliche und Abstraktion, wie das bei vielen heute gebauten Projekten der Fall ist: nämlich eine Architektur als abstrakte Gebilde, die sich den Benutzern scheinbar nicht aufdrängen wollen und es dann doch in ihrer Leere und Belehrung tun.

Sie sind mit Ihrem Büro in Zürich und in Berlin ansässig. Ein großer Teil Ihres Teams stammt aus Italien oder hat in Italien studiert. Welchen Einfluss hat das auf die Arbeit Ihres Büros?
 
Die Wahl, mit Mitarbeitern aus Italien zusammenzuarbeiten, hat ebenso etwas mit meiner Biografie zu tun. Menschen aus Italien bringen Vergangenes mit dem Heute auf eine unglaublich lockere Art zusammen. Das ist, am besten auf einer Reise durch Italien zu beobachten. Kirchen und Wohnhäuser, alt und neu, Natur und Gebautes, Kommerz und Besinnliches – alles trifft auf eine selbstverständliche Art und mit viel Respekt aufeinander, ohne sich gegenseitig zu stören oder auszugrenzen.

Das neue Stadtschloss steht bald vor der Fertigstellung. Wie hätten Sie sich den Bau vorgestellt? Ihr Büro hat 2002 am Wettbewerb teilgenommen.

Mein Beitrag für das Stadtschloss sah ausschließlich eine Freilegung der Fundamente unterhalb der asphaltierten Fläche vor und lediglich eine Ergänzung aus den noch immer vorhandenen Schutttrümmern, sodass eine Ruine innerhalb einer grünen Parkanlage mit kulturellen Freiluftmöglichkeiten errungen worden wäre. Mein Ziel war es, in dem Beitrag – auch wenn ich einen Abriss des Palastes der Republik vorgeschlagen hatte – in Form einer Ruine eine etwas weniger dominante Haltung gegenüber der Geschichte zu propagieren.

Welche Bauten in Berlin finden Sie besonders gelungen und welche weniger?

Auf diese Frage gebe ich eine Literaturempfehlung. Lesen Sie die Lektüre von Alain de Botton „Glück und Architektur“! Der Untertitel lautet: „Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein“.

Danke für das Gespräch

Ina Hegenberger

 

81 - Winter 2020