Stadtplätze: Der Hindemithplatz

Stadtplätze leben von den Menschen, die sie bevölkern. Ohne sie wirken sie seltsam leblos. Steine und Bäume, Blumen und Brunnen bleiben so ohne Bewegung, Organismen ohne Puls. Schön sein können die Plätze dennoch, wenn man ihre Ruhe am Morgen spürt, ehe die Stadt erwacht, in der Nacht, wenn sie schläft. Aber dafür sind sie nicht geschaffen. Und doch sind Stadtplätze zugleich Ruhepunkte in der quirligen City, Oasen des Innehaltens. Nur was, wenn die ganze Stadt plötzlich zur Ruhe gekommen ist, innehält, innehalten muss? Wenn plötzlich eine andere Ordnung herrscht? Diesmal: Der Hindemithplatz

Ein Nachmittag im April auf dem Hindemithplatz in Charlottenburg. Der Platz liegt im Galerienviertel im Schnittpunkt der Mommsen-, Giesebrecht- und Wilmersdorfer Straße nördlich des Kurfürstendamms. Viele der Häuser stammen aus der Gründerzeit. Die Straßen sind breit, die Bürgersteige gepflegt, Parkanlagen, Boutiquen und Galerien prägen das Stadtbild.
Paul Hindemith, nach dem der Platz seit 1995 benannt ist, hat zwar nicht in der Gegend gelebt, aber er hätte gut in die soziale Struktur des Viertels gepasst. Hindemith war ein bedeutender Musiker, er beherrschte fast alle gängigen Orchesterinstrumente. Und er komponierte, für das Ohr des Laien etwas gewöhnungsbedürftig, Neue Musik. Die Nazis lehnten seine Musik als „entartet“ ab. 1934 verboten sie seine Werke im deutschen Rundfunk. Propagandaminister Joseph Goebbels verunglimpfte Hindemith öffentlich als „atonalen Geräuschemacher“. Der reagierte schließlich mit Emigration und setzte seinen künstlerischen Weg zunächst in der Schweiz, dann in den USA fort. Eine kleine Tafel am Platz erinnert heute an ihn.

Auf den Steinen des St.-Georg-Brunnen, der den kleinen, gepflasterten Platz beherrscht, sitzen, umgeben von Platanen, in vorgeschriebenem Abstand ein paar Leute in der Sonne, lesen Zeitung oder ein Buch oder blinzeln einfach nur in den strahlend blauen Himmel. Da sitzen sie ja immer, das ist ihr Platz, das lassen sie sich nicht nehmen. Aber jetzt, sagen die Vorschriften, dürfen sie das nicht. Spaziergang ja, sitzen Nein!, auch nicht mit Abstand. Sonst kostet’s. Niemand stört sich daran und niemand stört sie dabei, die Ordnungshüter haben gerade anderes im Blick als die friedlichen Wesen auf dem kleinen Platz.

Es ist ruhig, sehr ruhig wie zur Siesta-Zeit – Erinnerung an den Urlaub im Süden – als wir noch in den Süden fahren konnten. Aperitif-Zeit. Das Mommsen-Eck gleich am Platz bietet 100 verschiedene Biere an, die man bei schönem Wetter an den Tischen unter Platanen probieren kann. Das Wetter ist warm und schön, aber es gibt keine Tische und kein Bier. Biergärten sind tabu wie so vieles in diesen Tagen. „Bleibt uns treu und kommt wieder“, steht an der Tür des Lokals, „es kommen auch wieder bessere Zeiten“.

Bessere Zeiten hat auch schon der St.-Georg-Brunnen erlebt. Der vielbeschäftigte Berliner Architekt Wilhelm Walter schuf den Brunnen Anfang des vorigen Jahrhunderts für den Hof des ehemaligen Vergnügungs­etablissement „Bayernhof“ am Potsdamer Platz. Vermutlich hat ihn eine Italienreise zu dem Wasserspeier in Form griechisch-mythologischer Halbwesen inspiriert, die auf zwei Ebenen des Beckens aus Muschelkalk speisen.

Ganz oben, zwischen vier Säulen aus rötlichem Granit, unter einem Dach, stand einst eine Bronzefigur des Heiligen Georg, ein als Drachentöter verehrter Märtyrer der Christen. Die Säulen sind noch da und auch das Dach, nur St. Georg nicht. Der wurde nach dem Krieg von Dieben demontiert und verschleppt. Bis heute ist die Figur verschollen.

1975 wurde die Ruine des Bayernhofes abgerissen, der Brunnen zerlegt und 1980 auf dem, zu dieser Zeit noch namenlosen, Hindemithplatz wieder zusammengesetzt – ein Weg, den so mancher Berliner Stadtschmuck gehen musste, wie auch der Neptunbrunnen, der einst am Stadtschloss stand. Es gab Überlegungen, dem Brunnen eine neue Figur zu geben und 1980 auch einen Wettbewerb, für den die Bildhauerin Katharina Szelinski-Singer aus Styropor und Gips eine „Prinzessin auf dem Dach“ schuf. Der Entwurf kam schließlich nicht zur Ausführung und so wirkt der kleine Tempel irritierend leer.

Das dachte vielleicht auch der Witzbold, der auf dem leeren Platz zwischen den Granitsäulen ein silbergraues Mietfahrrad platziert hat. Flaneure stehen da, schauen hoch und staunen über die derbe Installation. Aber man ist ja in Berlin einiges gewöhnt. Wird schon irgendwer wieder in Ordnung bringen.

Und der verschwundene Heilige Georg? Den könnten wir jetzt gut gebrauchen. Er ist nach der Überlieferung auch einer der vierzehn Nothelfer der Christen. Spezialgebiet: Fieber, Pest und andere Seuchen.

Thomas Leinkauf

 

82 - Frühjahr 2020