Verwerfungen und Chancen einer Metropole – 100 Jahre Groß-Berlin

Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von Groß-Berlin hatte der Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin-Brandenburg e. V. einen offenen internationalen städtebaulichen Ideen-Wettbewerb, „Berlin-Brandenburg 2070“, ausgeschrieben. Entlang von Themenfeldern sollte es um die längerfristige Zukunft der europäischen Metropolregion Berlin-Brandenburg gehen. 55 Beiträge aus dem In- und Ausland wurden eingereicht. Die Ergebnisse liegen jetzt vor.

Berlin hat seit Jahren Wachstumsschmerzen. Aber der Hauptstadtregion fehlt es an Fantasie von ihrer eigenen Entwicklung. Wie soll Berlin-Brandenburg in 50 Jahren aussehen? Zu kleinteilig sei das Denken, zu wenig visionär, so der Befund des renommierten Stadtplaners und Soziologen Harald Bodenschatz. „Heute müssen wir die Weichen stellen für das Leben zukünftiger Generationen“, lautet sein Plädoyer. In die Diskussion müsse einfach wieder Schwung kommen. Neue Ideen seien gefragt. Vor 110 Jahren, als es schon einmal einen solchen Wettbewerb gab, habe man den Mut gehabt, groß zu denken. Davon profitieren wir bis heute. Als Mitglied der Jury entschied Bodenschatz mit, welche Wettbewerbsbeiträge letztlich überzeugen konnten.

Von den 55 eingereichten Arbeiten kamen 18 in die Endrunde, und aus diesem Kreis wurden vom Preisgericht die fünf Preisträger ausgewählt. „Die Wettbewerbsbeitäge zeigen Ideen auf, wie der existierende Raum in eine lebenswerte Zukunft geführt werden kann. Bei der Preisvergabe war uns wichtig, auf der aktuellen Situation aufbauend, realistische Absichten für die zukünftige Metropolregion zu kreieren“, fasst Tobias Nöfer, AIV-Vorsitzender und Jurymitglied, die Ergebnisse zusammen. Dabei sollten keine einzelnen Bauwerke entworfen werden, vielmehr ging es um strukturelle Ansätze zu Stadt- und Freiraum, Verkehr und Bebauung. Die Region Berlin-Brandenburg musste auch keinesfalls neu erfunden werden, ganz im Gegenteil. Der dichte öffentliche Nahverkehr, die lebendigen kleinen Zentren in den Berliner Bezirken und das relativ intakte naturnahe Umland gelten als unbedingt bewahrenswert. Die Teilnehmer des Wettbewerbs hatten die Aufgabe, all diese vielfältigen Aspekte zusammenzubinden und in konkrete Entwürfe umzusetzen. Dabei ging es erst einmal um die Entwicklung eines Gesamtplans für das Wettbewerbsgebiet. Anhand von einzelnen frei gewählten Teilgebieten in Berlin und Brandenburg konnten die Teilnehmer exemplarisch zeigen, wie sie sich die Zukunft der Region vorstellen.
Futuristische Bilder lieferte allein Architekt Pedro Pitarch aus Madrid. Auf dem ehemaligen Flughafengelände in Tegel lässt er einen riesigen Kugelbau landen. Und das heute beschauliche Königs Wusterhausen bekommt diverse Hochhäuser. Man traut seinen Augen nicht. Für seine gewagten Entwürfe bekam der Spanier den fünften Preis.

Die anderen preisgekrönten Entwürfe kommen wesentlich nüchterner daher und arbeiten sich am wachsenden Siedlungsstern, der städtebaulichen Verdichtung und den daran geknüpften ökologischen Fragen ab. Ganz dem Thema Wasser widmet sich der vierte Preis, den die Berliner Thomas Stellmach und Lysann Schmidt für das Projekt „Landschaft der Unterschiede“ gewonnen haben. In Zeiten des Klimawandels werden Seen und Flüsse mehr und mehr zum Rückgrat einer Kulturlandschaft. Dieser besondere Ansatz hat die Jury überzeugt.
 
Den ersten Preis gewann der Beitrag „Zusammenwachsen – Landschaf(f)tStadt“ von Bernd Albers und Silvia Malcovati (Berlin und Potsdam) mit Vogt Landschaft und Arup Deutschland. Wenngleich alle Preisträger die Idee des Siedlungssterns aufnehmen, haben ihn die Gewinner des Wettbewerbs am konsequentesten zu Ende gedacht. In dieser Beschränkung zeige sich der Meister, fasst der Niederländer Jo Coenen, Vorsitzender des Preisgerichts, die Entscheidung zusammen. Für ihre konkreten Konzepte ausgewählt haben die Gewinner des Wettbewerbs die Stadt Bernau, der sie großes Entwicklungspotenzial bescheinigen, das Gebiet Tempelhof-Südkreuz und die Stadt Schwedt ganz im Osten von Brandenburg. Und um es gleich vorwegzunehmen: Schwedt war der heimliche Star des Wettbewerbs. Hier zeigen sich all die historischen Schichten, Verwerfungen, aber auch die Chancen der Region am deutlichsten. Der nahe Nationalpark Unteres Odertal dürfte einer größeren Öffentlichkeit bekannt sein. Aber wer weiß schon, dass dort direkt an der polnischen Grenze einmal ein stattliches Hohenzollernschloss stand? Es prägt Schwedt bis heute, auch wenn das Gebäude selbst 1962 abgerissen wurde. Die mittelalterliche Stadt, die barocke Stadt und die sozialistische Planstadt, all das ist Schwedt. Seit Jahrzehnten schrumpft die Stadt, und der Stadtumbau ist weit fortgeschritten. Der Beitrag von Bernd Albers und Silvia Malcovati hebt besonders auch auf die Nähe Schwedts zu Polen ab, betont also die europäische Dimension. Jetzt, da der mehrspurige Ausbau der Bahnstrecke Berlin-Stettin beschlossene Sache ist, könne man doch auch Schwedt mit an das Streckennetz anbinden und somit für Pendler in beide Richtungen attraktiv machen. Schwedt könnte so zur Musterstadt für das Brandenburg der nächsten 50 Jahre werden.

Die Ergebnisse des Wettbewerbs werden im Rahmen der Ausstellung „Unvollendete Metropole. 100 Jahre Städtebau für (Groß-)Berlin“ bis Ende des Jahres im Kronprinzenpalais vorgestellt. Ergänzt wird die Ausstellung durch Metropolengespräche, Vorträge und Diskussionen.

Karen Schröder

 

1. Platz:  ZUSAMMENWACHSEN – LANDSCHAF(F)TSTADT


von Bernd Albers / Silvia Malcovati / Günther Vogt Standort: Berlin / Potsdam / Zürich

Die von Wäldern, Seen und Agrarflächen geprägte Landschaft außerhalb Berlins stellt ein einzigartiges Zukunftspotenzial für die klimatische und ökologische Regeneration der Region dar. Den räumlichen Zusammenhang dieser Flächen zu stärken und deren Einbindung in den wachsenden, sich verdichtenden Stadtkörper zu verbessern, ist ein zentrales Motiv des Entwurfs.

 

2. Platz: STADTLANDSCHAFT BRANDENBURG-BERLIN 2070 – KONTUR EINER ÜBERGANGSGESELLSCHAFT


Kopperroth / SMAQ / Alex Wall (Berlin und Cambridge, USA), Dipl.-Ing. Stefan Tischer, freischaffender Landschaftsarchitekt, Office MMK – Urban Technologies

„Übergangsgesellschaft” zwischen Land und Stadt: Die Kontur zeichnet die Arme des Siedlungssterns nach und vermittelt den Übergang zwischen Stadt und ländlichem Raum neu. Sie bildet ein „Freiland” und eine poröse Membran zwischen zwei Kulturlandschaften. Die Kontur liegt als durchschnittlich 1 000 Meter breite Zone mal in Brandenburg, mal im Land Berlin.

 

3. Platz: STERNARCHIPEL BERLIN-BRANDENBURG


Jordi & Keller Architekten / Pellnitz Architektur und Städtebau (Berlin), Christina Kautz Landschaftsarchitektur, Ludwig Krause Stadtplaner

Das aktuelle Leitbild eines Siedlungssterns für die Metropolregion Berlin-Brandenburg wird mit dem hier vorgeschlagenen Leitbild des Sternarchipels erweitert und differenziert. Der Begriff des Siedlungssterns und auch seine Visualisierung im Landesentwicklungsplan für die Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg zeigen eine uneingeschränkte Verdichtung und berücksichtigen damit nicht seine vielfältige Durchdringung mit Naturräumen. Der Begriff des Sternarchipels, der sowohl an das Konzept von Berlin als „grünem Archipel“ als auch an Ideen des Groß-Berlin-Wettbewerbs von 1910 anknüpft, will diese dialektische Durchdringung von Stadt und Natur als neues Leitbild vorschlagen.

 

84 - Herbst 2020
Stadt